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Und täglich grüsst das Murmeltier: Mietrecht auf kafkaeskem Holzweg

Mietrechtliche Bundesgerichtsurteile am Laufmeter


Am 6. Mai 2021 erliess das Bundesgericht ein Urteil zur Anfechtung des Anfangsmietzinses nach der Massgabe von Art. 270 Abs. 1 OR. Dieser Richterspruch reiht sich nahtlos in eine Vielzahl von entsprechenden Fällen ein: Eigentlich ein Dutzendurteil. Gleichwohl animierte es mich, ein paar Gedanken aufzuschreiben.


Der Mieter kann den Anfangsmietzins gemäss Art. 270 Abs. 1 OR anfechten und dessen Herabsetzung verlangen, wenn der betreffende Betrag missbräuchlich im Sinne von Art. 269 und Art. 269a OR ist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn damit ein übersetzter Ertrag aus der Mietsache erzielt wird (Art. 269 OR). Mietzinse von Wohnräumen sind in der Regel dann nicht missbräuchlich, wenn sie im Rahmen der orts- oder quartiersüblichen Mietzinse Liegen (Art. 269a lit. a OR). Ein gängiger Massstab, ob allenfalls ein missbräuchlicher Mietzins zumindest vermutet werden kann, liegt dann vor, wenn die Differenz des Mietzinses zwischen einem neu abgeschlossenen Mietvertrag und dem unmittelbar vorgängig gültigen Mietvertrag bei einem Mieterwechsel die Marke von 10 Prozent übersteigt.


Rechtshistorischer Hinweis: Die beiden Rechtsfiguren, die Orts- oder Quartierüblichkeit wie auch die 10-Prozent-Regel tauchen übrigens erstmals im Jahre 1946 auf. Sie gehörten damals zu einem umfassenden Kreisschreiben, das die Eidg. Preiskontrollstelle erlassen hatte. Es handelte sich damals um kriegsrechtliches Notrecht ohne Verfassungsgrundlage. Die dazugehörigen Normen und vor allem Rechtsprechung diffundierten über die nachfolgenden Jahrzehnte ins ordentliche Mietrecht.


Sachverhalt im Schnelldurchlauf


Nachfolgend geht es mir nicht um Juristisches, sondern darum, die landläufig bekannten Schwachstellen und Stolpersteine des schweizerischen Mietrechts mit Blick auf den Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen abermals aus einer fachlichen Optik zu beleuchten. Grundtenor: Eine zeitgemässe und zukunftstaugliche Umsetzung des Verfassungsauftrages nach der Massgabe von Art. 109 Abs. 1 BV hat viel Luft nach oben.


Grundlagen für diesen Blog bilden folgende Urteile: Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 2021 4A-183/2020, Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 2. März 2020 (NG190019-O/U) sowie das Urteil des Mietgerichtes Zürich vom 26. August 2019 (MA170003-L).


Konkret geht es beim konkreten Fall um den Mietzins einer Mietwohnung. Sie weist zwei Zimmer auf und weist eine Wohnfläche von «circa 48 Quadratmetern» auf. Die Wohnung befindet sich im vierten Obergeschoss einer Liegenschaft, die 1933 erbaut wurde. Als Teil einer Blockrandbebauung besitzt sie rund ein Dutzend Mietwohnungen. Die Liegenschaft selbst befindet sich im Kreis 4 der Stadt Zürich.


Anfangs April 2017 mietet eine Mieterin die fragliche Wohnung. Der vereinbarte Mietzins beträgt 1'060 Franken pro Monat. Dazu kommen Nebenkosten in der Höhe von monatlich 165 Franken. Der Vormieter bezahlte 738 Franken pro Monat bei identisch hohen Nebenkosten. Die Eigentümerin der Mietwohnung – eine Versicherung – begründete ihre Mietzinserhöhung mit einer Anpassung an «die orts- und quartierüblichen Verhältnisse» an. Die damit verbundene Mietzinserhöhung von 322 Franken pro Monat entspricht einer Erhöhung von knapp 44 Prozent. Ein happiger Aufschlag, zumindest auf den ersten Blick betrachtet. Gegen diese Erhöhung erhebt die Mieterin Einsprache. Sie endet vorerst mit einem höchstrichterlichen Urteil, nämlich mit einer Rückweisung an das Zürcher Obergericht. Letzteres muss den Fall neu beurteilen. Une histoire à suivre...


Alter Wein in neuen Schläuchen: neutrale Beobachtungen


Pfandabhängigkeit

Damit ein Anfangsmietzins überhaupt anfechtbar ist, bedarf es gemäss geltendem Recht zwingend den Bezug zum Vormietverhältnis. Der neu vereinbarte Mietzins kann vermutungsweise missbräuchlich sein, wenn dieser 10 und mehr Prozent über dem Niveau des vorangegangenen Mietzinses liegt. Das absolute Ausgangsniveau des ursprünglichen Mietzinses ist dabei grundsätzlich i also eine systemimmanente Pfadabhängigkeit der jeweiligen Mietverhältnisse über die Zeit hinweg. Sie, die Pfadabhängigkeit, verzerrt in der Regel das angemessene zeitpunktbezogene Preis-Leistungsverhältnis der einzelnen Mietobjekte merklich.


Das bedeutet im logischen Umkehrschluss zweierlei: Erstens existiert kein objektives und unabhängiges Mass oder Niveau, wann ein angefochtener individuell-konkreter Anfangsmietzins als missbräuchlich zu taxieren ist. Das ist so stossend wie es fachlich falsch ist. Folglich ist es durchaus keine Seltenheit, dass in einem Mehrfamilienhaus für identische Mietwohnungen deren Mietzinse problemlos um einen Faktor 2 auseinanderliegen. Der einzige Grund dafür liegt in der Genese der einzelnen Mietzinse durch die unterschiedliche Kadenz und Zeitpunkte der jeweiligen Mieterwechsel. Zweitens werden Veränderungen, die ausserhalb der Mietsache liegen, wissentlich nicht bei der Beurteilung des nicht missbräuchlichen Mietzinses berücksichtigt. Ein Beispiel dazu:


Eine Mietwohnung liegt an einer stark befahrenen Dorfstrasse. Nach dem Bau einer Ortsumfahrung fallen dort die Lärmimmissionen markant tiefer aus. Die Wohnqualität verbessert sich vor Ort. Der ursprüngliche Mietzins reflektiert mutmasslich die Situation mit mehr Lärm. Die Zahlungsbereitschaft der neuen Mieter dürfte grundsätzlich höher liegen. Eine entsprechende monetäre Neujustierung hat grundsätzlich nichts mit einer Marktmiete zu tun. Vielmehr liegt ein anderes Produkt, ein mutiertes standortgebundenes Güterbündel vor.


Simpler Lösungsvorschlag: Bei Mietwohnungen, die nach 10 Jahren und mehr Jahren einen neuen Mieter bekommen, soll der Mieter ohne irgendwelche Bezugnahme auf das ursprüngliche Mietverhältnis frei festlegen dürften. Letztere darf selbstverständlich auf Missbrauch überprüft werden. ABER der adäquate Massstab wäre dabei eine objektive Vergleichsmiete, idealerweise eine Marktmiete.


Orts- oder Quartierüblichkeit

Die involvierten Gerichte strapazieren dabei eine sprachliche Auslegung statt einer teleologischen. Über die vielen Jahrzehnte hinweg ging der materielle dieser Begriffe verloren. Im Kern ging und geht um die nutzungsbezogenen, kleinräumigen Standorteigenschaft, welche die Wohnqualität des jeweils einschlägigen Mietobjektes entweder positiv oder negativ beeinflussen. Der zeitgenössische Terminus technicus dafür lautet schlicht «Mikrolage». Sie beinhaltet die kleinräumige, nutzungsbezogene Situation innerhalb einer politischen Gemeinde. Für Fachleute muss geradezu grotesk anmuten, mit welchen teilweise haarsträubenden Scheinargumenten und bauernschlauen Winkelzügen die involvierten Parteien eine für sie passende Standortbeurteilung vornehmen. Man kann sich dem Eindruck nicht erwehren, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Fadenscheiniges wird akribisch zu Wichtigem hochstilisiert. Der mietrechtliche Begriff «Orts- oder Quartierüblich» ist ohne Zweifel verbrämt, toxisch und historisch belastet.


Was ist zu tun? Erstens ist der Begriff der «Orts- oder Quartierüblichkeit» in mehrfacher Hinsicht belastet. Es empfiehlt sich deshalb, ihn bei einer allfälligen Revision des Mietrechts zu ersetzen. Zweitens sollte von individuell-konkret ad-hoc gebastelten kleinräumigen Standortbeurteilungen in der Regel Abstand genommen werden.


Ein möglicher, eleganter Lösungsansatz für entsprechende Streitfälle im Kanton Zürich liegt nur wenige Klicks gratis auf dem Internet bereit: Es sind die steuerlichen Lagekassen des Kantonalen Steueramtes des Kantons Zürich. Sie erlauben adressgenau und flächendeckend eine konsistente und homogene Beurteilung von Wohnmikrolagen in jeder Zürcher Gemeinde. Der (rechtliche) Clou dabei: Das Bundesbericht selbst hat in einem Leiturteil dieses System zur Bestimmung der Vermögens- und Eigenmietwertbesteuerung vor etlichen Jahren als rechtmässig taxiert. Was will man mehr? Denn dank Digitalisierung und Innovationsgeist bieten mehrere private Unternehmen entsprechende Lageklassensysteme auch für die gesamte Schweiz pfannenfertig an.


Praxistauglichkeit – Operationalisierbarkeit

Gegenwärtig zählt die Schweiz rund 2.3 Millionen Mieterhaushalte. Folglich sollten in dieser Grössenordnung auch entsprechende Mietverträge existieren. Die absolut grösste Population an Mietwohnungen auf kommunaler Ebene befindet sich in der Stadt Zürich. Es sind rund 210'000; also knapp jede 10. Mietwohnung der Schweiz. Im Kreis 4, wo sich die zu beurteilende Mietwohnung befindet, liegt der Mietwohnungsbestand bei knapp 16'000 Wohnungen. Die Mietwohnungsdichte (Anzahl Mietwohnungen dividiert durch die Fläche) bewegt sich dort um die Marke von 5'500 Wohnungen pro Quadratkilometer. Ein Spitzenwert! Zum Vergleich: Der entsprechende Mittelwert über die gesamte Stadt beträgt «lediglich» 2'255.


Beim einschlägigen Fall gelang es den Parteien nicht, fünf vergleichbare bzw. gleichartige Mietwohnungen zur Bestimmung des orts- oder quartierüblichen Mietzinses, die den gerichtlichen Anforderungen genügt hätten, vorzulegen. Nicht nur Experten wundern sich über diesen Befund. Denn wenn der geforderte Nachweis nicht einmal der Zürcher Mieterhochburg auf Anhieb gelingt, wo dann? Das Bundesgericht bringt es auf den Punkt, wenn festhalten wird, dass es nicht um identische «Lagen» geht, sondern um vergleichbare und gleichartige Lage. Jede Mikrolage einer Mietsache ist für sich aus faktischen Gründen immer einmalig. Das bedeutet aber keinesfalls, dass kleinräumig keine angemessenen Vergleichsobjekte vorhanden sein können.


Zur Vermeidung von allfälligen Missverständnissen: Die Lösung besteht keinesfalls darin, dass weniger als fünf Vergleichsobjekte als hinreichend beurteilt würden. Im Gegenteil! Vielmehr gilt es bei der Bestimmung des «orts- oder quartierüblichen» Mietzinses oder auch bei einer tatsächlichen Marktmiete METHODISCHE Alternativen zu prüfen und diese auch rechtlich zuzulassen. Stichwort: Hedonische Mietzinsmodelle. Weitere Alternativen existieren.


Moral der Geschichte


Eigentlich ist es bitter: Seit gefühlten 40 Jahren sind die Kardinalschwachstellen des Schweizer Mietrechts mit Blick auf den Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen bekannt. Vor allem in den 1990er-Jahren wurde eine ganze Palette von Forschungsarbeiten und Gutachten zu den Defiziten der hiesigen mietrechtlichen Normen erstellt. Renommierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler waren dabei federführend. Die bisherigen Ausgaben für beratende und forschende Aufträge in dieser Materie seitens des Bundes dürfte die Marke von einer halben Million Franken übertreffen. Eine prägnante Zusammenfassung findet sich dazu in der Botschaft zur Teilrevision des Mietrechts im Obligationenrecht und zur Volksinitiative «Ja zu fairen Mieten». Sie wurde im September 1999 publiziert. Die Lektüre lohnt sich noch heute.


Kommt hinzu, dass unser Mietrecht mit der Kostenmiete einerseits und der Bindung des Mietzinses an einen Referenzzinssatz andererseits in internationalen Quervergleich exotisch daherkommt. Seit Jahrzehnten ist unser Mietrecht ein antiquiertes Unikat, das mitunter dysfunktionale Effekte auf mikro- wie makroökonomischer Ebene mit sich bringt. Der operative Leidensdruck mag gegenwärtig gering sein. Aber seien wir ehrlich. Sobald der Referenzzinssatz steigen wird, dürfte rasch eine andere politische Grosswetterlage herrschen. Die Normen zum Schutz vor missbräuchlichen Mieten in der Schweiz sind marode. Trotzdem dreht sich die Politik dazu in einem Hamsterrad ohne Perspektive.


Das Beste zum Schluss


In unmittelbarer Nachbarschaft zur fraglichen Mietwohnung bietet eine Genossenschaft Einzelzimmer für Studierende an. Deren Mietpreise pro Monat starten bei 400 Franken und gehen bis 520 Franken. Auf jedem Geschoss gibt es gemeinsame Nasszellen und Küchen. Die Genossenschaft erhält keine Subventionen und will nach eigenem Bekunden «faire Konditionen» bieten.


Selbst bei einer Milchbüchlein-Rechnung finden sich belastbare Indizien, dass ein Nettomietzins von 1'060 Franken (ohne Nebenkosten) für eine Zweizimmerwohnung mit circa 48 Wohnfläche im Kreis 4 wohl nicht das Attribut «missbräuchlich» verdient. Spoiler für Puristen: Damit ist weder das Kriterium des orts- oder quartierüblichen Mietzinses erfüllt noch liegt eine Referenz als Marktmiete im engeren Sinn vor. Aber eine robuste Duftmarke für einen objekt- und standortgereichten Mietzins scheint damit auf jeden Fall gesetzt. Dazu braucht keine professoralen Gutachten, sondern Kreativität und Realitätssinn.


Quellenangaben

Botschaft zur Teilrevision des Mietrechts im Obligationenrecht und zur Volksinitiative «Ja zu fairen Mieten» vom 15. September 1991; Bundesblatt, S. 9834.

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.gnpdetail.2021-0324.html

https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/fr/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://06-05-2021-4A_183-2020&lang=de&zoom=&type=show_document

https://www.gerichte-zh.ch/fileadmin/user_upload/entscheide/oeffentlich/NG190019-O2.pdf

https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/themen/bauen-wohnen/wohnverhaeltnisse/miete-eigentum.html


Ausgewählte Literaturhinweise

Bundesamt für Wohnungswesen (Hrsg.): Bericht der Studienkommission Marktmiete, Arbeitsberichte Wohnungswesen, Heft 28, Bern 1993.

Djurdevic, Dragana et. al.: Estimation of Hedonic Models Using a Multilever Approach: An Application for the Swiss Rental Market, in Swiss Journal of Economics and Statistics, Vol. 144, Issue 4, S. 679 ff.

Hausmann, Urs: Vertragsfreiheit im Schweizer Mietrecht von 1804 bis 2014 unter besonderer Berücksichtigung des Mietzinses, Diss. St. Gallen, Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2016.

Hausmann, Urs: Mietrecht auf dem Prüfstand – Vorschläge für eine Revision, Swiss Real Estate Journal, Nr. 13, S. 4 ff., 2016.

Jaeger, Franz et al.: Marktmiete: Schweizer Wohnungsmieten zwischen Politik und Markt, Chur 1995.

Rätzer, Ernst: Mieterschutz und Wohnungsmarkt. Die Mietpreisbeschränkung im schweizerischen Missbrauchsbeschluss, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 123. Jahrgang, Heft 1, S. 23 ff., 1987.

Schips, Bernd; Müller, Esther: Mietzinsniveau bei Marktmieten, in: Bundesamt für Wohnungswesen (Hrsg.), Materialien zum Bericht der Studienkommission Marktmiete, Arbeitsberichte Wohnungswesen, Heft 29, S. 1 ff, Bern 1993.

Thalmann, Philippe: Explication empirique des loyers lausannois, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 123. Jahrgang, Heft 1, S. 47 ff., 1987.

Zürcher Kantonalbank: Ruhe bitte! Wie Lage und Umweltqualität die Schweizer Mieten bestimmen, Zürich 2011.

https://www.zkb.ch/media/pub/coporate/volkswirtschaft/ruhe-bitte-218386.pdf


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