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Preiselastizität der Nachfrage: Unerwartete Nebeneffekte bleiben aus


Märkte – genauer Preisentwicklungen – sind unberechenbar. Sie lassen sich nicht antizipieren. Vor Jahresfrist kostete ein Liter Benzin an einer hiesigen Zapfsäule im Mittel rund 1.5 Franken. Aktuell bewegt sich das Preisschild bei einer Marke von circa 2.3 Franken. Eine satte Erhöhung bei identischer Qualität und gleichbleibender Quantität von über 50% steht somit zu Buche. Eine gesalzene Erhöhung, die Konsumenten wie Wirtschaftsauguren gleichermassen überrascht haben dürfte.


Besonders frappant ist dabei die zeitliche Explosivität dieser Richtungsänderung. Zum Vergleich: Bei der ersten Ölpreiskrise, die im Herbst 1973 eskalierte, lag zwar der mittlere Jahrespreis von 1974 um 91% höher als der mittlere Jahrespreis von 1970. Aber das Jahresmittel von 1974 war «nur» um gut 28% höher als dasjenige des Vorjahres.


Exogene Schocks belasten eingespielte Wertschöpfungsketten, Arbeitsteilungen oder Lieferketten der Weltwirtschaft im Allgemeinen und das störungsfreie Funktionieren von zahlreichen Volkswirtschaften im Besonderen. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ist fast überall viel Sand im Getriebe. Ob es sich dabei «nur» temporäre Turbulenzen handelt oder ob es sich tektonische Verschiebungen im Sinne eines beschleunigten Strukturwandels abzeichnen, steht in den Sternen. Ein gemeinsamer Nenner bleibt: Man wird fast immer auf dem falschen Fuss erwischt.


Nachdem hierzulande das Thema «Inflation» im volkswirtschaftlichen Datenkranz fast 30 Jahre lang nicht nennenswert auf der Agenda der Wirtschaftsakteure war, geht seit wenigen Monaten die (berechtigte) Angst vor Inflation wieder um. Die Debatte darüber wurde sehr rasch wieder salonfähig. Ganz nach der Devise «Totgesagte leben länger».


Wirtschaftshistorische Einbettung: nominelles Allzeithoch ist eine Realität, aber…


Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte bestätigt ein mögliches Bauchgefühl: Mit den aktuellen nominellen Benzinpreisen von merklich über zwei Fragen wurde bis dato ein absolutes Allzeithoch erreicht. Zum Vergleich: 1970 kostete in der Stadt Zürich ein Liter Benzin im Jahresmittel 53 Rappen. Die Marke von einem Franken wurde erstmals 1979 überschritten. Und der bisherige Höchstwert von 1.84 Franken wurde im Jahr 2008 registriert.


Doch wie präsentiert sich die Materie unter Berücksichtigung der allgemeinen Teuerung? Hätte sich der mittlere Benzinpreis gemäss dem Landesindex der Konsumentenpreise (LIK) entwickelt, läge der Preis pro Liter im 2. Quartal 2022 in der Grössenordnung rund 1.62 Franken, also in etwa dem Preis, der anfangs 2021 tatsächlich zu berappen war.


Der Mittelwert (wie auch der Median) des realen Benzinpreises zwischen 1970 und bis Ende Mai 2022 liegt bei gut 55 Rappen pro Liter. Ende 2021 lag der Wert bei 58 Rappen (Basis Preisniveau 1970) Mit anderen Worten ausgedrückt blieb der reale Preis aus Sicht der Endkonsumenten über die letzten 50 Jahre erstaunlich stabil. Nebenbemerkung: Wäre die steuerliche Belastung von Treibstoffen im Zeitverlauf nicht von Zeit zu Zeit angehoben worden, wäre der freie Marktpreis dieses fossilen Energieträgers real gesunken!


... das Wirtschaftsleben ist nicht eindimensional


Aber aufgepasst: Die ausschliessliche Fokussierung oder Bezugnahme auf die Preise oder deren Entwicklung im Zeitverlauf greift für eine fundierte Lageeinschätzung zu kurz. Um aussagekräftig zu sein, müssen sie, die hiesigen Endkonsumentenpreise für Benzin, freilich in einen Kontext gestellt werden. Es sind dabei vor allem drei Realitäten, die es zu berücksichtigen gilt:


Erstens haben sich die nominalen Löhne in den letzten gut 50 Jahren im Mittel um den Faktor 4.5 erhöht. Die teuerungsbereinigte Kaufkraft der Privathaushalte hat überdurchschnittlich zugenommen. Man kann sich mehr leisten. Der Korb an konsumierten Gütern und Dienstleistungen ist absolut gewachsen.


Zweitens hat sich parallel im Warenkorb, der zur Bestimmung der Teuerung periodisch dem Konsumverhalten angepasst wird, das «Gewicht» für Benzin mehr als halbiert. Von 2.67% (im Jahre 1977) hat es sich auf 1.14% (im Jahre 2020) zurückgebildet. Innerhalb dieses Warenkorbes hat damit die Position «Benzin» im Laufe der Jahrzehnte eine anhaltende und weitere Marginalisierung erfahren. Zum Vergleich: Das Gewicht von «Nachrichtenübermittlung» (also Post, Telefon und Natel) hat sich an diesen zwei Zeitpunkten von 1.94% auf 3.11% erhöht.


Drittens konnte dank dem stetig anhaltenden technischen Fortschritt beim Bau von Autos und deren Motoren der Verbrauch an fossilen Treibstoffen wie Benzin oder Diesel nachweislich und substanziell reduziert werden. Die Energieeffizienz nahm zu. Bei konstanter Fahrleistung reduzierte sich die benötigte Treibstoffmenge. Ein VW Golf, der ab 1974 in der ersten Generation vom Band rollte, hatte einen Verbrauch von 10 Liter auf 100 Kilometer. Der entsprechende eidgenössische Kennwert für alle im Jahr 2019 zugelassenen Neuwagen betrug knapp 6.2 Liter. Bei einem zeitgenössischen neuen Kleinwagen, der von seinem Nutzwert her mit einem ursprünglichen VW Golf vergleichbar ist, liegt der Treibstoffverbrauch in der Regel deutlich unter der Marke von 5 Litern pro 100 Km.


Eine Illustration: Ein Privathaushalt legt pro Jahr 10'000 Kilometer mit dem eigenen Auto zurück. In den Referenzjahren 1970 und 2022 erzielt er jeweils ein mittleres Hauseinkommen. Das Haushaltsbudget wird wie folgt belastet:


Vergleichswerte: Die mittleren Ausgaben lagen im direkten Vergleich über die letzten gut 50 Jahre bei 2.17% (Fall a) bzw. bei 2.56% (Fall b).


Die Moral von der Geschichte: Reales Experiment zur Preiselastizität der Nachfrage


Nein, in diesem Blog geht es mir weder um die Sinnhaftigkeit noch um eine vertiefte ökonomische Analyse von bereits in ausgewählten Ländern umgesetzten oder auch teilweise politisch geforderten Umsetzungen von temporären Vergünstigungen von (fossilen) Energieträgern, vor allem von Benzin. Bei solchen Vorstössen wie sie jetzt vom US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden vorgetragen werden, handelt es bestenfalls um reine Symbolpolitik ohne Hinweise auf mutmassliche schädliche Nebenwirkungen. Der Hase liegt woanders im Pfeffer.


Anders als bei Naturwissenschaften ist die Durchführung von Experiment im grossräumigen Massstab im Wirtschaftsleben nicht möglich. Folglich lassen sich keine (belastbaren) Aussagen über die zu erwartende Wirkung von Massnahmen, sprich von neuen oder alternativen Regulierungen machen. Man stelle sich vor, wie grotesk es wäre, wenn man auf die Idee käme, eine Pandemie als reales Experiment durchzuspielen. Auch Zentralbanken können nicht «im Trockenen» oder übungshalber geldpolitische Massnahmen ergreifen und dabei schon vorgängig messerscharf und verlässlich die mutmasslichen Wirkungen kennen. Man lernt im besten Fall ex-post aus den gemachten Erfahrungen.


Die herrschenden Rekordpreise bei den Benzinpreisen hierzulande können in einem gewissen Sinn aber mit Einschränkungen durchaus als Experiment im Massstab eins zu eins für eine Lenkungsgabe auf Benzin verstanden werden. Sie geben Aufschluss zur Preiselastizität der Nachfrage nach dem Gut «Benzin». Auf den Punkt gebracht steckt hinter diesem technischen Konstrukt die Frage, ob und stark sich Preisveränderungen eines spezifischen Gutes auf das Niveau der nachgefragten Menge auswirkt. Welche kausale Lenkungswirkung wäre in solchen Konstellationen zu erwarten?


Meine dazugehörige Arbeitshypothese, die offen gesagt auf der Hand liegt, ist die Folge: Die Nachfrage und der Konsum von Benzin dürfte in Schweiz wie in den meisten andern Ländern auch eher preisunelastisch sein. Trifft diese Hypothese zu, dann dürfte sich gegenwärtig weder das Mobilitätsverhalten im motorisierten Individualverkehr messbar ändert – sprich die Summe der zurückgelegten Autokilometer im Jahr 2022 bliebe fast konstant – noch würde die Menge an verkauftem Treibstoff in diesem Jahr in einem nennenswerten Umfang zurückgehen. Es ist also wenig wahrscheinlich, dass sich CO2-Emissionen – ausgelöst durch die gegenwärtig herrschenden höheren Endkonsumentenpreise bei Benzin oder Diesel – abnehmen.


Käme die Politik zum Schluss, dass der Konsum von fossilen Energieträgern nachhaltig und substanziell eingeschränkt werden muss und dabei monetäre Lenkungsabgaben als zweckmässiges Instrument implementiert werden sollten, dann kann gegenwärtig Anschauungsunterricht genommen werden. Jeden Tag wird zur Zeit wertvolles Datenmaterial produziert.


Hoffentlich kümmert sich die hiesige Zunft der Ökonomen und Ökonominnen nicht nur um konjunkturelle, verteilungspolitische oder fiskalische Fragestellungen rund um die vielfältigen volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, sondern auch um umwelt- und ressourcenbezogene Themenkreise.


Man muss kein Hellseher sein, dass der Benzinpreis – zumindest in der Schweiz – noch substanziell höher liegen müsste, damit ein nennenswerter Konsumrückgang vermeldet werden könnte. Provokative Einschätzung: Aus der Hüfte geschossen müsste der Preis pro Liter wohl mindestens die Marke von 3 Franken überschreiten.


Zum Schluss noch dies: Vor einem Jahr hat das Stimmvolk eine Revision des CO2-Gesetzes abgelehnt. Dieser Vorschlag enthielt auch eine Flugticketabgabe. Sie bewegte sich zwischen 30 und 120 Franken pro Flug. Ob die vorgesehenen Niveaus zweckmässig und angemessen gewesen wären, werden wir nie erfahren.


Nachtrag:

Dem auslösenden Moment der massiven Verwerfungen an zahlreichen Märkten von Rohstoffen und auch von Nahrungsmitteln, nämlich dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, gibt es nichts, aber wirklich nichts Positives abzugewinnen. Er ist eine weitere durch Menschen verursachte Katastrophe.


Quellen:

https://www.astra.admin.ch/dam/astra/de/dokumente/abteilung_direktionsgeschaefteallgemein/faktenblatt_1_-_benzinpreisundmineraloelsteuertarife.pdf.download.pdf/faktenblatt_1_-_benzinpreisundmineraloelsteuertarife.pdf

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/loehne-erwerbseinkommen-arbeitskosten/lohnindex.assetdetail.22304340.html

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/preise/landesindex-konsumentenpreise/indexierung.assetdetail.22804763.html



https://www.srf.ch/news/international/hohe-spritpreise-in-den-usa-deshalb-will-joe-biden-die-benzinsteuer-aussetzen


Bildnachweis:

Benzintourismus in Livigno im Jahre 1979

https://ba.e-pics.ethz.ch/catalog/ETHBIB.Bildarchiv/r/1248957


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