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Open doors – open mind! Lob auf Atelierhaus in den Bergen

Kennen Sie Robert Obrist? Ich bis vor kurzem nicht. Robert Obrist (1937-2018) war Architekt. Ein bekannter Eyecatcher aus se: Zu Beginn der 1990er-Jahre war er – zusammen Richard Brosi – federführend bei der ikonischen Überdachung des Postautodecks am Churer Hauptbahnhof. Sein geografischer Wirkungskreis als «Unterländer», der aus dem Kanton Aargau stammte, umfasste schwergewichtig den Kanton Graubünden und dort insbesondere das Oberengadin.

Das vorletzte Wochenende stand bei uns unter dem Motto Architektur in den Bergen. Meine Frau und ich besuchten eine Handvoll von ausgewählten Liegenschaften. Man konnte sie im Rahmen der Veranstaltung «open doors engadin 2022» besichtigen. Als bekennende Aficionados von Bauten aus Sichtbeton buchten wir – mehr zufällig als geplant – die Tour Nr. 37: «Atelierhaus Robert Obrist | St. Moritz». Ein interessant ausschauendes Foto motivierte uns dazu.


Atelierhaus Obrist: eine Entdeckung der besonderen Art


Sein Anfang als Architekt war bescheiden: So baute er in der Confiserie Hanselmann in St. Moritz im Jahre 1962 Toiletten ein. Doch Schritt für Schritt wuchs sein Werk und Schaffen an. Anfangs der 1970er-Jahre realisierte er als Bauherr und Architekt für sich ein Haus an prominenter Lage in St. Moritz: Das Atelierhaus Obrist. Der markante Bau ganz aus Sichtbeton stiess damals selbst im mondänen Kurort mit Ruf einer Jetset-Destination auf wenig Gegenliebe. Als Bau «ohne Schminke» war er, das Gebäude, in den Augen der Einheimischen ein Fremdkörper. Über (Beton)-Ästhetik lässt sich bekanntlich trefflich streiten.


Das Revolutionäre und für mich Faszinierende dieser Liegenschaft liegt jedoch in ihrem Konzept. Zwar plante und baute Robert Obrist für sich offensichtlich einen Massanzug, der aber mit universellem und visionärem Gedankengut verbunden war: Die perfekte bauliche Symbiose von Wohnen und Arbeiten an einem Standort und in einem Gebäudevolumen.


Kluge Planung: Antworten auf unbekannte zukünftige Problemfelder antizipiert


Folgende baulich erkennbare Aspekte in diesem Gebäudekomplex sind dabei aus meiner Sicht ganz besonders herauszustreichen:


  • Im sogenannten Atelier arbeiteten rund 20 Architektinnen und Architekten mit und für Robert Obrist in einem Grossraumraumbüro. Einzig die Sekretärin arbeitete in einer «Glaskiste». Das Geklimper der Schreibmaschine störte zu stark. Ansonsten sollte das bewusst offen gewählte Layout der Büroräumlichkeiten den Austausch von Gedanken unter den Angestellten fördern.


  • Die Wohnung von Robert Obrist und seiner Frau war nur durch eine interne Wendeltreppe und eine Glasschiebetüre vom Atelier getrennt. Je nach Sichtweise war diese Privatwohnung ein blosser Fortsatz der allgemeine Arbeitszone oder umgekehrt. Letztlich hatte er damit ein perfekt konzipiertes und inszeniertes Homeoffice; und dies fernab von gesetzlichen Vorgaben oder hektischer Improvisation.


  • Im Atelier selbst wurde an Pulten entworfen, geplant, gezeichnet, gebastelt und geschrieben. Das Team um Robert Obrist tat, was man von einem Architekturbüro erwartet, nämlich Architektur. Nur im Atelier gab es nicht nur Arbeitsplätze und Sitzungszimmer, sondern auch grosszügige Aufenthaltszonen für Angestellte. In Letzteren wurden Kamingespräche geführt – ja es gab und gibt dort ein Cheminée –, Vorträgen gelauscht und mutmasslich der eine oder andere Wettbewerbserfolg gefeiert. Wohnliche Begegnungszonen im Büro hatte Robert Obrist damit in der Planung dieser Liegenschaft bewusst mitgedacht. Im Rückblick betrachtet hatte er bereits vor 50 Jahren ein intuitives Gespür dafür, wie Kopfarbeit funktioniert und er schuf entsprechende architektonische Schnittstellen.


  • Der Clou zum Schluss: Das Atelierhaus umfasst bis heute mehr als ein halbes Dutzend Studios und Mietwohnungen. Die Mieter im Hause waren typischerweise, aber nicht exklusiv, Angestellte von Robert Obrist sowie Gäste. Sie stammten aus dem In- und Ausland. Letztere statteten dem Architekturbüro Besuche ab oder sie kamen für ein Praktikum ins Oberengadin. Der Bauherr liebte und pflegte den internationalen Austausch. Was bleibt? Eine abermals vorausschauende Reaktion auf die seit den 1970er-Jahren angespannte Situation im St. Moritzer Wohnungsmarkt für Einheimische wie auch für «Gastarbeiter». Würde Obrist die jüngsten einschlägigen Medienmeldungen zur dortigen «Wohnungsnot» vernehmen, hätte er ein Déjà-vu-Erlebnis mit einem Lächeln im Gesicht.


Die Moral von der Geschichte


Das (richtige) Bauen in den Bergen beschäftigte Robert Obrist Zeit seines Lebens.


«Er war zudem davon überzeugt, dass Bauen Teamarbeit ist. Multikulturelle Arbeit und Interdisziplinarität waren ihm als Architekt und als Unternehmer nachweislich wichtig.»

Fazit: Sowohl seine Arbeitsweise als Geschäftsführer eines Unternehmens als auch ausgewählte realisierte Bauten waren vor 50 Jahren und mehr Jahren der Zeit voraus.


Ein innovativer Geist, der abseits – sprichwörtlich in der Peripherie – wirkte und vor allem dort seine Spuren hinterliess. Mit dem Atelierhaus aber wurde im kleinräumigen Massstab ein ganzheitlicher Wohn- und Bürokomplex geschaffen, in dem zentrale anerkannte Erkenntnisse aus Innovations- und Organisationstheorien mustergültig in Beton gegossen wurden. Und dies wohlgemerkt lange vor der Zeit als Konzerne wie Google diesbezüglich das Rad der Zeit neu zu erfinden glaub(t)en.


Beton hat als Baustoff seit geraumer Zeit einen durchzogenen Ruf, zumindest unter dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit. Sein extensiver Einsatz wäre in einem «modernen» ESG-Rating zumindest ein Tolggen im Reinheft. Vor diesem Hintergrund lehrt uns das Atelierhaus Obrist mindestens zwei Lektionen:


Ob einem Gebäude erstens das Prädikat «nachhaltig» zugesprochen werden kann, hängt weniger von der physischen Substanz, sondern vielmehr davon ab, ob die Liegenschaft innen konzeptionell und nutzungsseitig in der langen Frist zu überzeugen vermag. Die Lebensdauer von Gebäuden ist in der Schweiz bekanntlich besonders lang. Und zweitens mögen mit ESG-Ratings bei Liegenschaften gute Absichten verfolgt werden, vielleicht sind aber nur suggestiver Natur. Denn die echten Prüfsteine für die Gebäude liegen in der Zukunft. Folglich lassen sich erst im Rückspiegel mit einem Abstand von zwei und mehr Generationen schlüssige und belastbare Zwischenurteile zu dieser komplexen Materie fällen.


Quellen:

Hausmann, Urs: Innovationsprozesse von produktionsorientierten Dienstleistungsunternehmen und ihr räumlich-sozialer Kontext, Diss. St. Gallen, Nr. 1750, Bamberg 1996.

https://52bestebauten.ch/46-ueberdachung-postautodeck-chur/

Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Schriftenreihe Band 6, Ineichen Hannes (Hrsg.) Robert Obrist Bauten, Projekte und Planungen 1962 bis 2002, Luzern 2002.

NZZ Folio, Wie wir arbeiten werden, Januar 2022.


Bild:

Üsé Hausmann

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