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Kritische Gedanken zu ESG-Ratings: 1-Zimmer-Wohnungen sind (viel) besser als ihr Ruf



Das Akronym «ESG» ist seit längerer Zeit in aller Munde. Und entsprechende Ratings schiessen wie Pilze aus dem Boden. Kürzlich habe ich in einem immobilienspezifischen ESG-Rating festgestellt, dass ein hoher Anteil von 1-Zimmer-Wohnungen im liegenschaftsbezogenen Wohnungsmix als Makel bei dieser Liegenschaft in Verbindung mit dessen ESG-Rating taxiert wurde. Begründung: Durchkreuzt würde hier das Gebot der Durchmischung. Das machte mich stutzig.


In der Tat gelten 1-Zimmer-Wohnungen auf den ersten Blick weder als sexy noch als interessante Wohnungskategorie. Sie fristen nicht selten ein Dasein als Mauerblümchen. Eigentlich, so scheint es, werden sie nur toleriert, weil sie schon gebaut worden sind. Eine Kostprobe gefällig?


Statistisches Material

Vom Wohnungsbestand von rund 4.58 Millionen Wohnungen gehen rund 6.3% auf das Konto von 1-Zimmer-Wohnungen, ein typisches Nischensegment also. Das heisst, ein Bestand von 100 Wohnungen weist im Mittel sechs Einheiten einem oder eineinhalb Zimmern auf. Als Zimmer gelten Wohnräume wie Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer usw., die als Gesamtes eine Wohnung bilden. Nicht gezählt werden Küche, Badezimmer, Duschen, Toiletten, Reduits, Korridore, Veranden sowie zusätzliche separate Wohnräume ausserhalb der Wohnung.


Vier von fünf 1-Zimmer-Wohnungen wurden vor 40 und mehr Jahren gebaut. Insbesondere in den 1960-er und 1970-er Jahren erlebten sie einen Boom. In den letzten Dekaden fielen sie bei Projektentwicklungen von Neubauten jedoch immer mehr ins Hintertreffen. Sie scheinen auf den ersten Blick, nicht mehr zeitgemäss oder gar zukunftsträchtig zu sein. Insbesondere auch dann, wenn sie unter einem energetischen Blickwinkel betrachtet werden.


Die Durchschnittsfläche pro 1-Zimmer-Wohnung beträgt 36 Quadratmeter. Zudem weisen knapp neun von zehn dieser Mikrowohnungen eine Wohnfläche von maximal 49 Quadratmeter aus. Der mittlere Mietertrag pro Quadratmeter liegt rund 15% über dem entsprechenden Mittelwert aller Mietwohnungen. Der Grund dafür liegt nahe: Die bauliche und technische Installationsdichte pro Kubikmeter Wohnung fällt hier höher aus als bei den übrigen Wohnungstypen. So lassen sich die relativen Baukosten pro Quadratmeter Wohnfläche in diesem Segment erklären. Weiter dürfte die mittlere Verweildauer in 1-Zimmer-Wohnungen in der Tendenz kürzer ausfallen als bei den übrigen Wohnungstypen. Gleichwohl bewegt sich das Leerstandrisiko für 1-Zimmer-Wohnungen – vielen Unkenrufen zum Trotz – im Quervergleich oftmals in moderaten Bahnen.


Unübertroffene Flächeneffizienz

Gut jeder dritte Privathaushalt der insgesamt rund 3.8 Millionen Privathaushalten in der Schweiz ist ein 1-Personen-Haushalt. In absoluten Zahlen sind deren 1.37 Millionen Haushalte. Dem stehen rund 0.3 Millionen 1-Zimmer-Wohnungen entgegen. Mit anderen Worten bewohnt circa eine Million 1-Personen-Haushalte eine Wohnung, die mindestens mehr als ein Zimmer aufweist. Diese strukturell bedingte Konstellation ist alles andere als unerwartet. Aber das ändert nichts daran, dass der mittlere Wohnflächenkonsum aller Personen, die in 1-Zimmer-Wohnungen leben, lediglich mit knapp 30 Quadratmetern zu Buche schlägt. Der nationale Mittelwert aller Privathaushalte zusammen bewegt sich dagegen um die Marke von 46 Quadratmetern, also 50% mehr pro Kopf. Einmal mehr zeigt sich die alte ökonomische Weisheit, dass ein Angebot eine Nachfrage hervorbringt.


Vor diesem Hintergrund gesehen wäre es spannend zu wissen, wie viele 1-Personen-Haushalte eine 1-Zimmer-Wohnung bevorzugen würden, aber aus Mangel eines entsprechenden Angebots aus ihrer Sicht zu viel Wohnfläche bzw. Wohnraum bewohnen (müssen). Überspitzt formuliert läge dabei eine Form von Zwangskonsum vor. Die mietrechtlichen Vorgaben und Anreizstrukturen bei diesem Gedankenspiel lassen wir hier für einmal links liegen.


Meine Arbeitshypothese lautet, dass 1-Zimmer-Wohnungen aus einer ökologischen Sicht betrachtet dank ihrer systemimmanenten hohen Belegungsdichte eine vorteilhafte Ökobilanz während ihrer Nutzungsdauer aufweisen. Zur Vermeidung von allfälligen Missverständnissen: 1-Zimmer-Wohnungen funktionieren nur an ausgewählten Makro- und Mikrostandorten in allen ESG-Dimensionen optimal. Sie sind und bleiben hierzulande typische Nischenprodukte. 1-Zimmer-Wohnungen besitzen traditionell zwei «natürliche» Habitate: Grossstädte einerseits und touristische Orte mit saisonalem Betrieb im Alpenraum andererseits.


Moral der Geschichte

ESG-Ratings sind – wie alle anderen Ratings auch – mehr oder weniger stark vereinfachte – Abbilder von Realitäten. Ratings befriedigen unser Bedürfnis, vielschichtige Realitäten, Prozesse und Sachverhalte rasch und kompakt einzuordnen und miteinander vergleichen zu können. Dagegen ist per se nichts einzuwenden. Es entspricht unserem Zeitgeist wie auch der «Like»-Kultur, die sich in den letzten Jahren etabliert hat. Dabei werden jedoch oftmals folgende Aspekte gar nicht oder zuwenig beachtet:

  • Alle Ratings sind fast immer unvollständig und nie perfekt. Denn es werden nur jene Bereiche untersucht, gemessen und bewertet bzw. taxiert, wo Daten vorhanden sind. Nicht die Wesentlichkeit des beleuchteten Themas bestimmt die Ausrichtung des Ratings, sondern umgekehrt, das vorhandene Datenmaterial. Die offene Deklaration von Lücken wären in ihrer Wirkung wohl zielführender als diffuse, «gebastelte» Indikatoren. Ratings über die Wettbewerbsfähigkeit von Ländern oder solche über Universitäten sind so etablierte wie typische Vertreter von entsprechenden Ansätzen.

  • Oftmals werden dabei der Formulierung und Konzeption keine wirklich belastbaren Arbeitshypothesen unterstellt oder mit kruden Pseudokausalzusammenhängen operiert. Kommt hinzu, dass dabei nicht empirische Evidenz als Leitfaden dient, sondern oftmals rein normative Konzepte: Es zählt nicht, was ist, sondern, was sein soll. Das gilt vor allem, aber nicht nur für die Bereiche «S» (Social) und «G» (Governance), sondern auch für «E» (Environment).

  • Typische ESG-Ratings sind retortenhaft und holzschnittartig konzipiert. So besteht eine der triftigsten konzeptionellen Schwachstellen darin, dass die Kontexte der Liegenschaften geflissentlich ausgeblendet werden. Beispiel: Ein Mehrfamilienhaus mit zwei Dutzend 1-Zimmer-Wohnungen ist sowohl aus einem soziodemografischen als auch aus einem ökonomischen Blickwinkel heraus betrachtet ganz anders zu beurteilen, wenn sich diese Wohnungen – exemplarisch – nicht in Zürich-Altstetten, sondern in eher im ländlichen Raum wie etwa der Aargauer Gemeinde Merenschwand befindet. Es gilt den Kontext systematisch miteinzubeziehen.

  • Die ESG-taxierte Liegenschaft oder ein entsprechendes Portfolio sind das eine. Mindestens so wichtig ist das Verhalten der dazugehörigen dort ansässigen Nutzer. Für eine handfeste und schlüssige Analyse bedarf es einer integralen Betrachtungsweise. Entscheidend ist dabei die Wahl der Systemgrenzen. Ein Klassiker dazu ist die Belegungsdichte von Wohnungen oder der implizite Konsum an Wohnfläche pro Kopf. Der vorhandene Wohnungsmix für sich allein genommen ist nicht aussagekräftig. Was zählt ist die Anzahl Menschen, die tatsächlich permanent in diesen Wohnungen leben. Die faktische Existenz einer Wohnungstyps ist weder notwendig noch hinreichend, um schlüssige Aussagen über deren ESG-Profil zu machen.

Meine Kernbotschaft lässt sich in drei Thesen nochmals verdichten:


Erstens wirken ESG-Ratings in der Tendenz normierend und behindern so Wettbewerb und Innovationen. Vielmehr ist ein eigentlicher Herdentrieb auszumachen. Die Gefahr, einem kollektiven Irrtum aufzusitzen, ist ein ernstzunehmendes Restrisiko. Heute gibt es kein Korrektiv.

Zweitens können sie einer Denkfaulheit Vorschub leisten: Die Gefahr ist real, dass das gute Abschneiden in Ratings und nicht das Initiieren und Pflegen von permanenten Lernprozessen in der Gesellschaft im Zentrum der einschlägigen Bemühungen und Aktivitäten stehen. ESG-Ratings lassen einem daher in trügerischer Sicherheit wähnen.


Drittens dürften ESG-Ratings in der heutigen Form vor allem Marketingbedürfnisse befriedigen als dass sie sich in einer absehbaren Zeit zu einer tragfähigen und führenden Methode zur Beurteilung von «nachhaltigen» Investitionen oder Anlagen sein könnten.


Nachtrag

Preisfrage: In welchen immobilienspezifischen ESG-Ratings werden heute der Konsum von knappem Bauland, von Bodenflächen überhaupt oder der Grad der Bodenversiegelung durch den Bau und den Betrieb von Gebäuden thematisiert? Alles klar? Eben; q. e. d.


Offenlegung: Mein persönlicher Konsum an Nettwohnfläche pro Kopf ist grösser als 100 Quadratmeter.


Datenquelle

Alle Daten stammen vom Bundesamt für Statistik und beziehen sich grundsätzlich auf das Jahr 2019, genauer auf den 31. Dezember 2019.


Bildquelle

Franz Schuster - Eine eingerichtete Kleinstwohnung, Englert & Schlosser, 1927, Frankfurt.





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