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Ei, Ei, Ei! Dem Phänomen der Inflation ei-mässig auf der Spur und ein kleines Anlagewunder

Frische Nudeln sind ein Genuss



Kürzlich bereite Hausmann für sich und seine Frau selbstgemachte Nudeln zu. Die Ingredienzen für «Pasta fatta in casa» sind denkbar einfach: Mehl, Harzweizengriess (Direktimport aus Apulien), Eier und Wasser. Das Ergebnis überzeugte. Herrlich! Diese Mahlzeit erinnert mich an eine alte Idee für einen Blog: Wie haben sich die Preise für Eier für Privathaushalte in der Stadt Zürich über die letzten rund 100 Jahre entwickelt?

 

Eine kleine Fingerübung wartet. Auf den ersten Blick gleicht ein Ei dem andern. Preislich jedoch besteht aus unterschiedlichen, erklärbaren Gründen in den Läden eine grosse Preisspanne pro Stück: Eier aus Bodenhaltung, aus Freihandhaltung, aus dem Inland, aus dem Ausland oder Eier im Einzelverkauf oder abgepackt in Eierkartons sowie Eier nach Bio- oder Demeter-Standard. Auch das Gewicht pro Ei spielt eine Rolle. Zudem kann die Art des Verkaufs (u. a. Direktverkauf) den Preis für die Endkonsumenten beeinflussen. Unter dem Strich konnte ich aktuell eine preisliche Spanne eruieren, die von knapp 30 Rappen bis leicht über einen Franken pro Stück reicht (Stand Januar 2024).

 

Die Krux an mehrjährigen Zeitreihen: Produkt- und Qualitätsveränderungen

 

Diese Vielfalt mag für die Konsumenten vorteilhaft sein. Aber für das Messen von reinen Preisveränderungen im Zeitverlauf stellen sich dadurch anspruchsvolle methodische wie datenbezogene Probleme. Denn das Herausfiltern von reinen Preisveränderungen über die Zeit hinweg bedingt im Idealfall eine konstante Qualität des untersuchten Gutes. Alternativ könnte man mit geeigneten Methoden versuchen, sogenannt qualitätsbereinigte Preise zu ermitteln. Dazu fehlt jedoch geeignetes Datenmaterial. Stichwort dazu: hedonische Bewertung.

 

Der Vorteil von Eiern als Bezugsgrösse liegt mitunter auch darin, dass deren Preisbildung nicht nennenswert durch staatliche Eingriffe wie die Administrierung von Preisen oder durch Subventionen, Steuern oder Zöllen beeinflusst wird.

 

Statistischen Jahrbüchern der Stadt Zürich sei Dank

 

Ich habe Glück: Es existieren in amtlichen Statistiken konsistente Zeitreihen, und zwar für Stückpreise von Eiern, die entweder aus ausländischer oder inländischer Bodenhaltung stammen. Gemessen und ausgewiesen werden die tatsächlichen nominalen Preise pro Monat oder Jahr für Endkonsumenten. Eine Anmerkung: Preisliche Effekte wie Veränderungen in der Besteuerung von Lebensmitteln – Stichwort Mehrwertsteuer – sind marginal und werden nicht herausgerechnet.

 

Blick auf einen Nebenschauplatz: Spätestens seit der Corona-Pandemie ist die breite Bevölkerung auf Versorgungsengpässe und Lieferketten sensibilisiert. Die Tatsache, dass für Preise von importierten Eiern seit 1909 (!) eine lückenlose Zeitreihe existiert, impliziert, dass die hiesigen Nachfrager nach solchen Eiern auch immer beliefert wurden. Das war selbst während des 2. Weltkriegs der Fall. 

 

Entsprechende Zeitreise fördert Spannendes zu Tage

 

Vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs kostet ein Ei in der Limmatstadt 11 Rappen. Während und nach diesem Krieg grassiert die Inflation. Die Preise für Eier inländischer und ausländischer Herkunft schnellen ebenfalls nach oben:

 

Ende 1920 müssen Konsumenten in der Stadt Zürich für ein inländisches Ei 46 Rappen und für ein aus dem Ausland stammendes Ei 37 Rappen bezahlt werden. Gut 100 Jahre später, Ende 2023, weisen die amtlichen Statistiker absolut und nominal tiefere Endkonsumentenpreise aus, nämlich 40 bzw. 27 Rappen pro Ei! Eine fast unglaubliche Koinzidenz, aber sie ist mit robustem Datenmaterial belegbar.

 

Mindestens ebenso bemerkenswert ist die durchgehende systematische Preisdifferenz zwischen Schweizer Eiern und solchen, die aus dem Ausland importiert wurden bzw. werden. Hiesige Eier kosteten und kosten im langjährigen Schnitt 59% mehr. Dass in der Schweiz produzierte und hier auch verkaufte Agrarprodukte preislich in der Regel mehr oder weniger stark über den ausländischen Preisniveaus liegen, ist ein alter Hut. Auch die Gründe dafür sind bekannt.

 

Gleichwohl überrascht im konkreten Fall die Stabilität dieses Musters über die gesamte Zeit hinweg: Nur während des 2. Weltkrieges mussten für ausländische Eier hierzulande im Laden meha als für Schweizer Eier bezahlt werden. Mehr noch: Die Preisschere hat sich über die letzten 100 Jahre merklich vergrössert. Insbesondere während der 1980er-Jahren sind Eier aus einheimischer Produktion mindestens doppelt so teuer wie importierte Ware. Zur Vermeidung von allfälligen Fehlinterpretationen sei hier daran erinnert, dass die Qualität der Ware gleich oder zumindest sehr ähnlich war und ist.

 

Die jährliche Teuerungsrate zwischen Ende 1922 und Ende 2023 beträgt mit 1.9 Prozent. Unter dem Strich hat sich das allgemeine Preisniveau hierzulande um den Faktor 6.67 (oder um 557%) erhöht. Zum Vergleich: Die nominalen Preise für Eier bei den Endkonsumenten haben bloss um die Faktoren 1.6, also um 60% (Schweizer Eier), bzw. den Faktor 1.35, d. h. 35% (importierte Eier). Selbst beim Vergleich mit einem Demeter-Ei, das aktuell für 1 Franken und 13 angeboten wird, liegt die Preissteigerung immer noch merklich unter derjenigen des Teuerungsindexes. Erst ein Verkaufspreis von 1 Franken und 70 Rappen pro Schweizer Eier würde die bis dato aufgelaufene Teuerung adäquat kompensieren. Die Steigerung der (industriellen) Produktivität und der Verbesserung der Logistik sind m. E. hüben wie drüben auf jeden Fall beeindruckend. Davon profitieren hierzulande die Konsumenten von Eiern. Diese skizzierte Entwicklung ist repräsentativ. Sie führte über die letzten 100 Jahre grundsätzlich dazu, dass der relative Anteil am Haushaltsbudget, der für den Kauf von Nahrungsmitteln aufgebracht werden muss, frappant zurückgegangen ist.

 

Kaufkraftvergleich in der Stadt Zürich: damals und heute

 

1922 beträgt der Stundenlohn für einen Maurer auf Stadtgebiet 1 Franken und 60 Rappen. Nimmt man den damaligen Preis von in Zürich verkauften Schweizer Eiern als Numéraire, konnte der Maurer davon 6.4 Eier kaufen. Ein Maurer arbeitet dafür 9 Minuten und 38 Sekunden. Unterstellt man heute einen Nettolohn von 30 Franken pro Stunde, kann sich ein Maurer davon – sage und schreibe – 75 Eier kaufen. Damit fällt ihm, dem Maurer, alle 48 Sekunden ein Schweizer in den Schoss. Alter Schwede! Was soll man mit so vielen Eiern anstellen?

 

Keine Moral der Geschichte, aber dafür ein ökonomisches Gedankenmodell

 

Im Jahre 1921 beschliessen neun Familien ab dem 1. Januar 1922 ausschliesslich importierte Eier zu kaufen. Alle erwerbstätigen Erwachsenen dieser Haushalte arbeiten «auf dem Bau» als Maurer. Jede Familie erwirbt für sich seither pro Woche vier Eier. Pro Jahr kaufen sie folglich 9 mal 4 mal 52 Eier, in der Summe 1'872 Eier. Die «gesparte» Preisdifferenz zu hiesigen Eiern zahlt man am Ende jedes Jahres kollektiv bei der Zürcher Kantonalbank auf ein gemeinsames Sparkonto ein.

 

Die jährlich einbezahlten Beträge werden bis Ende 2023 marktkonform verzinst. Daraus resultiert über die gesamte Laufzeit – inklusive Verzinsung – pro gekauftes Ei ein Betrag von 17 Franken 70 Rappen. Da die Haushalte vom 1. Januar 1922 bis Ende Dezember 2023 insgesamt 189'072 Eier gekauft haben, beläuft sich deren eierbasierte «Konsumentenrente» auf die stolze Summe von 63'805 Franken. Kein schlechtes Ergebnis, aber das geht besser wie

 

Ein Geistesblitz beim Lesen der NZZ

 

Die Tochter der Familie S. studiert anfangs der 1920er-Jahre an der Universität Zürich Nationalökonomie. Dort besucht sie die Vorlesung «Geldmarkt, Kapitalmarkt und Börse, unter Berücksichtigung schweizerischer Verhältnisse». Dabei geht ihr eine Idee durch den Kopf. Mit hartnäckiger Überzeugungsarbeit kann sie ihre Eltern und auch die Familienvorstände der acht anderen Familien davon überzeugen, die angesparten Geldbeträge anders anzulegen. Denn die Studentin liest regelmässig die «NZZ». Dort verfolgt sie auch das Geschehen an der Zürcher Börse. Ende Dezember 1923 notiert die Nestlé-Aktie 180 Franken. In den Jahren 1922 und 1923 kommt durch das «Eier-Sparen» ein Betrag von rund 186 Franken zusammen. Davon kauft man eine erste Nestlé-Aktie.

 

Weitere Aktienkäufe folgen: 1930 (denkbar schlechter Zeitpunkt!), 1940, 1966, 1977, 1991, 1992, 1995, 2001 bis 2020, 2022 und 2023. Gekauft wird immer dann, denn der jeweilige Sparbetrag per Ende den Aktienpreis zum selben Zeitpunkt übertrifft. Bis zu diesen Zeitpunkten liegt das Geld auf einem Sparkonto der Zürcher Kantonalbank.

 

Ende 2023 besitzen die neun Familien bzw. deren Erben 10’010 Namenaktionen von Nestlé. Der Marktwert beläuft sich auf 1'174'000 Franken. 1923 entspricht dieses Vermögen einem Geldbetrag von rund 175'000 Franken. So geht das. Und gelobt sei die damalige Studentin.

Der ultimative Clou zum Schluss

 

Dieses kumulierte Vermögen versteht sich EXKLUSIVE der ausgeschütteten Dividenden. Fazit: Auch Kleinvieh macht Mist. Letzterer muss nur gesammelt, gebündelt und am richtigen Ort wieder verteilt werden. Nein, das Ei des Kolumbus wurde damit nicht gefunden, aber man versteht noch besser, wie smartes Anlegen «funktioniert». Und ja, hätten die Familien nicht alles auf eine Karte gesetzt, hätten sie auch das Prinzip der Diversifikation mustergültig umgesetzt…


Quellen:

 

 



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