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Déjà-vu: Es herrscht «Wohnungsnot» (in Oberengadiner Gemeinden)


Wir schreiben den 12. Dezember 1959. In der Engadiner Post vermeldet die Gemeinde Pontresina folgendes: «Die neue Wohngenossenschaft Belmunt, die am 13. November 1959 gegründet worden ist, verfolgt den Zweck, der herrschenden Wohnungsnot in Pontresina durch Beschaffung von preiswerten Dauerwohnungen zu steuern. (…).» Es leben gut 1'000 Seelen im schon seit vielen Jahrzehnten touristisch ausgerichteten Ort. Und 3.8 Einheimische bilden im Schnitt einen Haushalt. Zum Vergleich: Der Schweizer Mittelwert der Belegungsdichte beträgt Ende der 1950er-Jahre 3.4. Folglich wohnt man am Fusse der Berninagruppe etwas enger zusammen als anderswo.

 

Regulierungen des kommunalen Wohnungsbestandes zur Diskussion gestellt

 

Machen wir einen Zeitsprung. 64 Jahre später – genau am 8. Dezember 2023 – findet in der Oberengadiner Gemeinde Pontresina eine öffentliche Dialogveranstaltung statt. Sie wird von der Gemeinde ausgerichtet. Diskutiert wird dort die Einführung einer Lenkungsabgabe. Begrifflich bewegen sich die Urheber noch im Diffusen: Handelt es sich nun um eine Zweitwohnungssteuer, um eine Lenkungssteuer oder eben um eine Lenkungsabgabe? Aber rechtlich relevante Kategorien sollen hier nicht behandelt werden. Stattdessen interessiert das damit verbundene ökonomische Gedankengut. Inhaltlich geht es um die Versorgung von Wohnraum für private Haushalte, die ihren Erstwohnsitz in Pontresina haben.

 

Fakt ist, dass die Bemessungsgrösse für die angedachte monetäre Steuerungsgrösse ein tiefer bis mittlerer einstelliger Promille-Wert des amtlichen Verkehrswertes von Wohnungen sein soll. Daraus leitet sich eine jährlich zu entrichtende «Abgabe» ab. Letztere kann sich linear auf null reduzieren, wenn die Wohnungen pro Jahr mindestens 150 Tage als Erstwohnungen oder touristisch genutzt werden.

 

Seitenblick

Die aktuelle Belegungsdichte in Pontresina beträgt 2.1 Personen für alle Erstwohnungen. Damit bewegt sich im exakt im kantonalen Mittel und gar marginal unter dem Schweizer Vergleichswert von 2.2 Personen pro Erstwohnung. Weder hier noch anderswo führen hohe Miet- und Eigentumspreise oder auch ein dünnes Angebot an Wohnraum zu einer besonders effizienten Nutzung des knappen Guts «Wohnraum für Erstwohnungen». Oder anders formuliert: Die tatsächliche Wohnsituation der permanent ortsansässigen Personen in Pontresina entspricht dem Schweizer Mittel. Der hohe Anteil von Zweitwohnungen vor Ort – er liegt knapp unter der Marke von 60% – beeinflusst diesen Kennwert nicht. Gedanken-experimente: Würden alle Wohnungen in Pontresina auf die bestehende Wohnbevölkerung verteilt, würde sich eine sehr tiefe Belegungsdichte von 0.9 ergeben. Alternativ könnten in diesem Wohnungspark heute rund 5'000 Menschen permanent leben.

Es würde den Rahmen dieses Blogs sprengen, da angedachte monetäre Anreizsystem im Detail zu würdigen. Gleichwohl erlaube ich mir ein paar Anmerkungen dazu: Die Behörden schätzen die Summe aller amtlichen Verkehrswerte auf 2.332 Milliarden Franken. Mit etwas Zahlenakrobatik lässt sich nachweisen, dass diese Summe substanziell unter dem aggregierten geschätzten Marktwert liegt. Neben der notorisch konservativen Bewertungshaltung der zuständigen kantonalen Behörden erklärt die zeitliche Kadenz der Bewertung bzw. Wiederbewertung diese Konstellation. Der dazugehörige Zyklus beträgt 10 Jahre. Marktelemente und -stimmungen fliessen daher nur spärlich und zeitverzögert ein. Mit Blick auf den gewünschten Lenkungseffekt einerseits und dem Postulat der Gleichbehandlung aller aktuellen und zukünftigen Wohnungseigentümern andererseits ist die vorgesehene Steuerungsgrösse daher grundsätzlich nicht geeignet, bzw. nicht zielführend.

 

Die Moral von der Geschichte

 

Basierend auf dem bis dato veröffentlichten Dokumenten wie Präsentation, Studie der IC Infraconsult AG und einem Gesetzesentwurf (*) braucht es wenig Fantasie für eine Prognose: Der von den Gemeindebehörden skizzierte Ansatz – auch und wenn er umgesetzt würde – dürfte sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als klassischer Rohrkrepierer entpuppen. Bestenfalls würde damit Symbolpolitik betrieben.

 

Wie komme ich zu dieser unvorteilhaften Einschätzung? Es mangelt hüben wie drüben durchwegs an Durchschlagskraft, an Stringenz und teilweise auch volkswirtschaftlichem Wissen. Aus der Ferne betrachtet gilt es mindestens drei Aspekte bzw. Dimensionen gebührend zu berücksichtigen bzw. mitzudenken:

 

Erstens führt eine isolierte, kommunale Insellösung zu unerwünschten Verzerrungen und Flurschäden im Engadiner Erst- und Zweitwohnungsbestand bzw. -markt. Es werden gesamthaft falsche Anreize gesetzt. Heilung brächte diesbezüglich allenfalls eine koordinierte und verbindliche regionale und damit überkommunale Vorgehensweise.

 

Zweitens müsste nicht der Marktwert der Wohnung als Bemessungsgrösse ins Visier genommen werden, sondern der absolute Konsum von Wohnflächen (Hauptnutzfläche) pro Haushalt oder pro Kopf. Damit würde insbesondere dem umweltökonomischen Verursacherprinzip Rechnung getragen. Denn hier liegt letztlich neben (gleichberechtigten) sozialökonomischen Anliegen des Pudels Kern, nämlich in einem gesellschaftspolitisch vertretbaren und nachhaltigen energie- und ressourcenschonenden zügigen Umbau (Konversion) des hiesigen Wohnungspark. Dabei gilt eine ganzheitliche Optik einzunehmen.

 

Und drittens – das musste ja kommen – sollten übergeordnete kantonale und vor allem nationale Gesetze dringend reformiert werden. Es geht um Bereiche wie Raumplanung, das bestehende Zweitwohnungsgesetz sowie ausgewählte Normen zu Missbräuchen im Mietrecht. Sie alle sind einzeln oder im Verbund für die Mehrheit von unerwünschten Zuständen und Entwicklungen für eine bestmögliche Versorgung von Wohnraum in der Schweiz mitverantwortlich. Kommt hinzu, dass auf einer übergeordneten Ebene betrachtet solche kommunalen oder kantonalen Spezialgesetzgebungen in diesen Bereichen zu einer zunehmenden Rechtszersplitterung führen. Letztere wirkt sich für die meisten Akteure unter dem Strich betrachtet kontraproduktiv aus. Sie ist unerwünscht. Nicht die Märkte versagen, sondern oftmals die gesetzgebenden Instanzen, indem sie unsorgfältig verfasste und unausgegorene Gesetze und Vorschriften erlassen. Entsprechende dysfunktionale Vorschriften auf eidgenössischer Ebene wirken auch im lokalen Wohnungsbestand und Wohnungsmarkt von Pontresina aus. Die angedachte Lenkungsabgabe vermag aber solche Defizite weder zu mindern noch zu korrigieren.

 

Zum Schluss noch dies: Zwischen 1960 und Ende 2022 bildete sich der Morteratsch-Gletscher (er befindet sich im Gemeindegebiet von Pontresina) um fast 1'700 Meter zurück. Die Realität in diesem Gelände hat sich augenscheinlich und unumkehrbar verändert. Anders in der Klimapolitik, wo die Zeichen der Zeit in der Zwischenzeit mehrheitlich erkannt worden sind, dümpelt die hiesige Diskussion über die Ausrichtung und Massnahmen für eine zukunftsträchtige Wohnungspolitik seit Jahrzehnten meistens unaufgeregt vor sich hin. Meine These dazu ist simpel: Der Leidensdruck ist tief. Vielleicht handelt es sich um Phantomschmerzen.

 

Quellen:

 

https://www.e-newspaperarchives.ch: Engadiner Post, Band 68, Nummer 144, 12. Dezember 1959


Foto:

dr. dr. üsé kuba hausmann, Berninapass, Dezember 2021.



 

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