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Als der Bundesrat Blicke bis ins Jahr 2000 wagte – man schrieb das Jahr 1968


Übernächste Geländekammer: Versorgung mit Wohnungen bis ins Jahr 2053


Wie viele Wohnungen werden in der Eidgenossenschaft in den nächsten 30 Jahren bis 2053 neu gebaut? Eine ebenso berechtigte wie anspruchsvolle Fragestellung. Und sie ist keineswegs hypothetischer Natur. Dazu eine Zeitreise: Im Jahre 1968 wollte der damalige Bundesrat einen Blick in die Kristallkugel werfen. Der Fokus sollte dabei auf die langfristigen Entwicklungen in der Schweiz gelegt werden. Die Zeitspanne sollte drei Dekaden umfassen. Vor diesem Hintergrund beauftragte die Landesregierung eine Studiengruppe mit der Ausarbeitung von umfassenden Perspektivstudien für die schweizerische Volkswirtschaft. Der Fokus: Welche Entwicklungen und Probleme werden bis ins Jahr 2000 und darüber hinaus die Menschen hierzulande mutmasslich beschäftigen?


Die Palette der zu behandelnden Themen war breit: Bevölkerung, Arbeitsmarkt, Bildung, Landwirtschaft, Verkehr, Energie und Umwelt, um nur die wichtigsten davon zu nennen. Es war ein Monsterprojekt, aber auch eine Pionierarbeit. Auftragnehmer und «Oberleiter» war Francesco Kneschaurek, ein schon damals hochdekorierter Professor der HSG (Universität St. Gallen). Er hatte dort einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Statistik inne.


Punktlandung bei Bevölkerungsperspektive, aber mit Fake-news-Begleitung


Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in Etappen publiziert. Neben einem über 100 Seiten starken zusammenfassenden Bericht, der 1974 veröffentlicht wurde, boten sieben thematisch gegliederte Zwischenberichte mit mehr als 1'000 Seiten viel Denkmaterial für Diskussionen. Die breite Öffentlichkeit interessierte sich jedoch nur für die darin enthaltende Bevölkerungsprognose. Für das Jahr 2000 rechneten die Prognostiker mit einer Wohnbevölkerung von 7 bis 7.1 Millionen Menschen in der Schweiz. Tatsächlich zählten die amtlichen Statistiker Ende 2000 eine Wohnbevölkerung von 7.2 Millionen Menschen. Es war rückblickend ein Schuss ins Schwarze.


Gleichwohl musste Kneschaurek Zeit seines Lebens gegen handfeste Fake-News ankämpfen. Weshalb? Ihm und seinem Team wurde nachgesagt, sie hätten bis ins Jahr 2000 eine 10-Millionen-Schweiz vorhergesagt. Die Autoren wehrten sich mit Händen und Füssen gegen diese Unterstellung: «Sie (diese Prognose) wurde von uns nie gemacht, aber man versucht sie uns immer wieder in die Schuhe zu schieben, (…).» Es wurde offensichtlich versucht, die Arbeit im politischen Diskurs zu diskreditieren.


Prognose des jährlichen Wohnungsbedarf


In einem separaten Modul versuchte die Studiengruppe Aussagen über den zukünftigen Bedarf an Wohnungen zu machen. Man rechnete mit einem jährlichen Zusatzbedarf an Wohnungen, der zwischen 40'000 und 55'000 Einheiten wankte. Dabei wurde mit zwei Szenarien gearbeitet (Variante 1 und 2). Bei der Variante 1 rechnete man mit einer jährlichen Produktion von 42'500 Wohnungen, bei der Variante 2 mit einer solchen von knapp 52'000 Wohnungen. Effektiv gebaut wurden 46'400 Einheiten pro Jahr. Ironie der Geschichte: In den 1990er Jahren ging die eidgenössische Leerstandsquote durch die Decke. Der Grund: Mitten der grössten Immobilienkrise der Schweiz sprach das Bundesparlament Fördermittel für den Bau von neuen Wohnungen. In der Folge wurde auf Halde produziert. Die Politiker:innen in Bern schätzten die damalige Lage krass falsch ein. Man vergleiche dazu die Titelgrafik.


Was mich an dieser Wohnungsprognose am meisten fasziniert, ist die Fähigkeit der damaligen Forscher zur Abstraktion. Denn als die Perspektive zur Bautätigkeit im Jahre 1973 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, belief sich die hiesige Neubautätigkeit in diesem einen Jahr auf – sage und schreibe – knapp 82'000 Wohnungen (!). Zwischen 1947 und 1972 hat sich die jährliche Produktion von Wohnungen gar verfünffacht! Eine unglaubliche Leistung der damaligen Bauwirtschaft. Diese historische Rekordmarke der Bauwirtschaft dürfte hierzulande noch lange, nein, noch sehr lange, Bestand halten. Die aktuell aufkommende Forderung nach einer erneuten Ankurbelung des hiesigen Wohnungsbaus ist fehl am Platz und unrealistisch. Daran ändert auch das Klagen über eine angeblich drohende Wohnungsnot nichts. Dasselbe gilt für das Lamentieren über die angebliche Überregulierung bei bauaffinen Gesetzen einerseits und dem Ruf nach Einzonungen von Bauland auf der grünen Wiese andererseits. Weshalb?

Das Nadelöhr für das Niveau der Neubautätigkeit in der Schweiz bildet seit jeher vor allem die schiere Verfügbarkeit von Arbeitskräften während der gesamten Wertschöpfungskette von der Planung bis zur Ausführung auf der Baustelle. An dieser Einschätzung ändern weder der fortschreitende technische Fortschritt noch eine intensivere Digitalisierung oder auch die berechtigte Hoffnung auf eine weitere Erhöhung der Arbeitsproduktivität etwas Grundsätzliches. Denn auch auf die physische Produktion von Wohnungen bezogen gilt lapidar das folgende afrikanische Sprichwort: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht». Alles klar?

Moral von der Geschichte


In der Schweiz gab und gibt es einen notorischen Nachfrageüberhang nach Wohnraum. In der Summe sind die privaten Haushalte im Konsum von Wohnflächen unersättlich. Keine Frage. Es handelt sich dabei fast um ein «Naturgesetz», das seit 1850 – dem Beginn der eidgenössischen Volkszählungen – auch statistisch dokumentiert ist. Zudem berichtete der Zürcher Schriftsteller Gottfried Keller im Jahre 1876 einmal mehr von Zeiten der «Wohnungsnöthen» in der Limmatstadt. Wenn das Narrativ des Nachfrageüberhangs seine Gültigkeit verlieren würde, dann befände sich die hiesige Volkswirtschaft strukturell auf dem absteigenden Ast. Konkret: Sowohl die internationale Wettbewerbsfähigkeit der «Schweiz AG» als auch die Standortgunst für Unternehmen und Menschen wären in diesem Fall massgeblich in Frage gestellt. Ein solches Szenario wünscht sich kaum jemand. Eine Analogie: Wollen wir wirklich einen «schwachen» Schweizer Franken? Eben.


Francesco Kneschaurek und sein Team machten vor 50 Jahren dazu folgende bemerkenswerte Aussage: «Ein Mindestbestand an leeren Wohnungen ist bekanntlich wünschenswert, um die räumliche Mobilität der Bevölkerung nicht zu beeinträchtigen, die Marktstellung der Wohnungssuchenden gegenüber den Anbietern zu stärken und die Mietpreisentwicklung in erträglichem Rahmen zu halten. Ein Leerwohnungsbestand von 1,5 Prozent dürfte allerdings (schon aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Kosten, die damit verbunden sind), an der oberen Grenze des gesamtwirtschaftlich Vertretbaren liegen.» Man mag über diese pointierte Einschätzung staunen, aber sie trifft den Nagel auf den Kopf. Die Höhe der Leerstandsquote ist kein (verlässlicher) Indikator über die Qualität der Versorgungssicherheit mit Wohnraum in einem Quartier, in einer Gemeinde oder in einer Region.


Der Schlüssel zur Lösung einer nur postulierten oder mutmasslichen Wohnungsnot liegt nicht in der physischen Produktion von Extrawohnungen. Vielmehr haben wir es hier mit einem klassischen Verteilungsproblem zu tun und eben nicht mit einem Marktversagen. Es geht vielmehr um die einschlägigen Gesetze, welche diese Materie regeln. Gemeint sind primär die mietrechtlichen Normen zur Mietzinsgestaltung. Sie bilden hierzulande seit vielen Jahrzehnten makro- wie mikroökonomisch notorisch schädliche Anreize. Knappe Ressourcen erfahren eine teilweise Fehlallokation. Hier wäre der Hebel anzusetzen. Die Zeche für dysfunktionale Folgen von unzweckmässigen Gesetzesnormen zahlen regelmässig die ökonomisch schwächsten Haushalte in unserem Land.


Quellen:

Im Auftrag des Schweizerischen Bundesrates erstellt von der Arbeitsgruppe Perspektivenstudien (Oberleitung: Prof. D. F. Kneschaurek): Entwicklungsperspektive und -probleme der schweizerischen Volkswirtschaft, St. Gallen/Bern 1974.

Kneschaurek, Francesco: Entwicklungsperspektiven und Probleme der schweizerischen Volkswirtschaft. Bankverein-Heft Nr. 9, 1975.

Bundesamt für Statistik: Statistiken zur Bautätigkeit, zum Wohnungsleerstand und zur Bevölkerung.


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