In New York leben rund 8.5 Millionen Menschen (Stand 1. Juli 2019). Diese Zahl entspricht ziemlich genau der Schweizer Wohnbevölkerung (Stand Ende 2018). Kürzlich titelte die Neue Zürcher Zeitung mit folgender Schlagzeile: «New Yorker zieht’s aus der Stadt». Mit anderen Worten bewirkt die Corona-Krise Verschiebungen in den angestammten Standort- und Wohnpräferenzen. Diese Entwicklung zeigt sich dem Vernehmen nach auch in den einschlägigen Indikatoren zum Immobilienmarkt. Das Transaktionsvolumen sinkt. Zudem tendieren die Marktpreise nach unten. Seit Oktober 2019 betrugen die Preisrückgänge je nach Quartier und Segment zwischen 10 und 20%. Im Big Apple lassen sich derzeit zwei räumliche Muster ausmachen. Zum einen sind es Haushaltsumzüge in relativ günstigere Quartiere, um dort mit demselben Haushaltsbudget mehr Wohnfläche konsumieren zu können. Man sucht also ein noch besseres Preis-Leistungsverhältnis. Andererseits ist es ein Wegzug aus der Weltmetropole. Das Leben auf dem Land ruft. Insbesondere der letztgenannte Trend steht aber diametral einer mächtigen, globalen Entwicklung entgegen, nämlich derjenigen der Urbanisierung. Das heisst, es leben immer mehr Menschen in Städten. Demgegenüber verlieren «peripher» gelegene Orte an relativer Attraktivität. Ganze Landstriche wurden und werden entvölkert. Besitzt aber das Corona-Virus das Potenzial, ein wirklicher «Gamechanger» mit Breitenwirkung zu sein? Ändern sich bleibend die Regeln und Mechanismen der Standortpräferenzen von Haushalten? Zumindest als krude Arbeitshypothese taugt diese Sichtweise allemal.
New York als Weltmetropole war und ist um ein x-faches stärker von der globalen Pandemie betroffen als dies im Durchschnitt in der Schweiz der Fall ist. Die Daten sprechen – trotz zahlreichen methodischen und datenbezogenen Vorbehalten – eine klare Sprache. Gemessen an den laborbestätigten COVID-19-Fällen bestand – bezogen auf das erste Halbjahr 2020 – in New York im Mittel eine 6.4 Mal höhere wahrscheinlich als in der Schweiz, um sich nachweislich mit Virus anzustecken. Dort resultierten auf 1'000 Einwohner rund 24 solcher qualifizierten Fälle. Zum Vergleich: Der Schweizer Mittelwert beträgt gerade einmal 3.8. Über das Ausmass der Dunkelziffer weiss man freilich bis dato hüben wie drüben nichts. Darüber kann man vorerst nur spekulieren.
Schaut man sich diese Kenngrösse auf der Ebene der 117 New Yorker «Neighborhoods» räumlich aufgeschlüsselt im Detail an, zeigt sich einem Leopardenfell gleich ein heterogener räumlicher Flickenteppich. Die tiefsten Werte mit weniger als 10 Fällen pro 1'000 Einwohner finden sich primär in Downtown Manhattan. Von allen 117 Neighborhoods sind es lediglich deren neun, die tiefere entsprechende Kennwerte als die Kantone Genf, Tessin und Waadt ausweisen. Diese drei Kantone waren hierzulande bis zum heutigen Tag mit Abstand am stärksten vom Corona-Virus betroffen. Dieser Vergleich mag einen – wenn auch technischen – Eindruck von der unterschiedlichen Betroffenheit durch die Pandemie vermitteln.
Vor der gemachten Auslegeordnung kann man sich mit Fug und Recht die Frage stellen, ob die hohe Wohnattraktivität der fünf Grossstädte der Schweiz (Zürich, Genf, Basel, Bern und Lausanne) durch die virusbedingte Kalamität ebenfalls einen bleibenden Schaden erleiden könnte. Und wie wahrscheinlich wäre es dann, dass lokale Immobilienmärkte von kleinen Dörfern davon profitieren könnten? Werden nun die leerstehenden Wohnungen in ländlichen Gebieten auf eine erstarkte Nachfrage treffen? Mutieren nun die sogenannte Peripherie und notorische Abwanderungsgebiete der Schweiz zu künftigen aufstrebenden Wohnstandorten? Meine persönliche Arbeitshypothese lautet klipp und klar: nein. So dürften nicht nachfrage- und massstabsgerechte Immobilienprojekte in peripheren Gebieten zu handfesten Handhütern werden. Der grosse Ansturm von Wohnraumsuchenden auf dem Lande wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausbleiben.
Standortentscheidungen von privaten Haushalten sind vielfältig und sie sind keinesfalls monokausal erklärbar. Kommt hinzu, dass die statistische Betroffenheit mit Blick auf Epidemien «auf dem Lande» keinesfalls systematisch tiefer ausfällt, als in dichtbewohnten Gebieten, wo zudem teilweise noch eine massive Konzentration von Arbeits- und Ausbildungsplätzen existiert. Mehr noch. Es handelt sich um eine eigentliche Selbsttäuschung. Viren und Bakterien haben per se keine Standortpräferenz im Sinne von Stadt und Land. Für ihre Verbreitung sind andere Faktoren massgeblich verantwortlich.
Zum Schluss noch dies: In der Schweiz gibt es vielleicht 100 politische Gemeinden, die sich bezogen auf die grossen Wohn- und Arbeitszentren der Schweiz in wirklich peripheren Gebieten – typischerweise in den Alpen – befinden. Dazu gehört auch die Gemeinde Poschiavo im Kanton Graubünden. Diese italienischsprachige Gemeinde zählt knapp 3'500 Einwohner. Die Zugreise von dort nach Zürich dauert fast 5 Stunden. Gleichwohl weist die Gemeinde rund 20 laborbetätigte COVID-19-Fälle auf 1'000 Einwohner aus. Ein Spitzenwert, der auf kantonaler Ebene gemessen weder in Genf noch im Tessin erreicht wurde. In der Stadt Zürich beläuft sich derselbe Kennwert lediglich auf 2.89! Es ist eben genau nicht das oftmals strapazierte Stadt-Land-Muster-Denken, das einen «Schutz» vor Seuchen bringt. Einen deutlich höheren, stichhaltigen Erklärungsgrad dürften stattdessen klassisches Glück oder Pech aufweisen. Aber stochastische Prozesse oder Sachverhalte sind für uns Menschen grundsätzlich schwer zu fassen. Die gegenwärtig intensiv geführte Debatte um Bars und Clubs als effektive oder vermeintliche Hotspots oder gar Sündenböcke für die Verbreitung des Corona-Virus zeigt ein weiteres Mal, dass wir häufig in Stereotypen denken und manchmal auch danach handeln. Die lapidare Gleichsetzung von hoher Wohn- und Arbeitsplatzdichte mit hohem Ansteckungspotenzial taugt bis dato und wohl auch in Zukunft nicht als schlüssiges Erklärungsmuster für die räumliche Präsenz des Corona-Virus.
Quellennachweis:
https://covid-19-schweiz.bagapps.ch/de-2.html
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/raum-umwelt/bodennutzung-bedeckung/siedlungsflaechen.assetdetail.1420904.html
https://www1.nyc.gov/site/doh/covid/covid-19-data.page
NZZ, 7. Juli 2020, S. 18.
https://www.census.gov/quickfacts/fact/table/newyorkcitynewyork,newyorkcountymanhattanboroughnewyork,NY/PST045219
http://poschiavo.ch/it/reparto-amministrativo/872-info-coronavirus-12-giugno-2020-csvp
Buchtipp:
Kahneman Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011.
Bildnachweis:
dr. urs hausmann strategieberatung; eigene Darstellung.