Zahlen mit neun Nullen
38.2 Milliarden Franken wies die Schweizerische Nationalbank (SNB) als Verlust per Ende März 2020 für das erste Quartal aus (Medienmeldung vom 23. April 2020). Ebenfalls vorgestern titelte das SECO mit folgender Medienmitteilung «Stärkster Rückgang des BIP seit Jahrzehnten erwartet». Die Expertengruppe des Bundes rechnet mit einer realen Schrumpfung der Schweizer Volkswirtschaft von minus 6.7% auf Jahresbasis. Geht man von einem geschätzten Referenzwert für das Jahr 2019 für das nationale Bruttoinlandprodukt (BIP) von 690 Milliarden Franken aus, resultiert ein Schrumpfungspotenzial für das gesamte 2020 von rund 46 Milliarden Franken. Reihum handelt es um happige Beträge. Alles scheint konjunktur- und anlageseitig den Bach runterzugehen. Es sieht zappenduster aus. In diese unerfreuliche Momentaufnahme passen auch die fiebrigen Verläufe der Leitindizes der grössten und wichtigsten Wertpapier- und Rohstoffbörsen. Die Volatilität der Kurse ist im übertragenen Sinn atemberaubend.
Doch es gibt verbürgte Ausnahmen: Eine davon sind Schweizer Immobilien, genauer das Segment Wohneigentum mit selbstgenutzten Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen. Dieses spezifische Segment entwickelte sich im ersten Quartal 2020 (vom 1. Januar 2020 und mit dem 31. März) wertmässig entgegen der allgemeinen Talfahrt. Traut man den öffentlich zugänglichen, qualitätsbereinigten Transaktionsindizes von drei privaten Anbietern – was der Autor ohne Vorbehalte macht – resultiert für den besagten Zeitraum eine satte Aufwertung. Sie bewegt sich in der Grössenordnung von gut 33 Milliarden Franken. Mit anderen Worten: Was die SNB in einem Quartal verliert, kann die Aufwertung von Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen zwar nicht vollständig, aber doch spürbar wieder wettmachen. Man höre und staune.
Allzeithoch und «Best in Class»
Als Anlageklasse hat sich Wohneigentum zumindest bis ans Ende des ersten Quartals 2020 als robust gegen einen epochalen exogenen Schock erwiesen. Das ist aktenkundig. Ob es weiterhin Stehvermögen besitzt und der Krise trotzen kann, steht freilich auf einem anderen Papier. Aber der Auftakt beim Abwettern der volkswirtschaftlichen Ausnahmesituation ist ohne Zweifel geglückt. Doch damit nicht genug. Weitgehend unbemerkt erklomm die einschlägige Anlageklasse eben erst ein Allzeithoch. Beide, der nominale Index für Einfamilienhäuser und derjenige für Eigentumswohnungen erreichten per Ende März 2020 historische Spitzenwerte. Diese Marken zeichnen sich durch Robustheit aus. Denn alle drei, voneinander unabhängigen, Indexanbieter kommen zeitgleich zum selben Ergebnis! Anzumerken bleibt, dass diese Höchststände – vorab im Segment der Einfamilienhäuser – nicht nur nominal, sondern zugleich real gemessen als Höchstwerte Gültigkeit besitzen. Die verwendeten Transaktionspreisindizes starten übrigens 1982 bzw. 1985.
Die mit den bisherigen Ausführungen verbundene Kernbotschaft liegt aber nicht primär in den erreichten Niveaus der beiden Preisindizes. Letzteres sind zufällige Momentaufnahmen. Vielmehr wiegt die Tatsache, dass nur wenige Tage nach Quartalsende (!), also zeitnah, qualitativ hochwertige und räumlich differenzierte Marktinformationen gratis und franko zur Verfügung gestellt werden. Es ist die schiere Existenz als öffentliches Gut, die es lobend hervorzuheben gilt. Der Zugang auf exakt solche Daten dient als eine wertvolle Orientierungshilfe in einer Volkswirtschaft, die zurzeit ausser Rand und Band ist. Der konkrete Fall belegt weiter, dass in erster Linie privates unternehmerisches Denken und Handel jene Agilität und Anpassungsfähigkeit bringt, die Behörden nicht in der Lage sind, zu erbringen. Sie haben andere, äusserst vitale Qualitäten. Ein Wort zur Einordnung dieser Aussage: Im Frühjahr 2011 wurde im Nationalrat eine Motion eingereicht. Sie verlangte die staatliche statistische Erfassung von Immobilienpreisen. Über Umwege wurde dem Bundesamt für Statistik ein entsprechender Auftrag erteilt. Heute, rund neun Jahre später, liegen noch keine materiellen Ergebnisse vor. Von staatlichen Preisindizes für Wohneigentum fehlt weiterhin jede Spur.
Erkenntnisse der kognitiven Psychologie – Mensch-Maschine
Spätestens seit dem manifesten Ausbruch der Corona-Krise ist das hiesige Schätzungswesen besonders gefordert und gefragt. Mit welchen mutmasslichen Marktpreisen für Wohneigentum als Ergebnis von Schätzungen kann im laufenden zweiten Quartal 2020 rechnen? Oder anders formuliert, wie sollte man – der herrschenden Krisensituation angemessen – solche Ergebnisse von Schätzungen als Kunde, Empfänger oder Auftraggeber interpretieren? Als primären Orientierungspunkt empfehle ich in erster Linie auf die angewendete Schätzmethode zu schauen. Marktwertschätzungen, die auf der Basis von hedonischen Modellen (Fachjargon: regressionsbasierte Ansätze) erstellt werden, sind «blind» gegenüber dem herrschenden Status quo. Das ist ein Vor- und ein Nachteil. Ihr Daten- und Informationsstand ist zwar sehr aktuell, aber er endet vorerst Ende März 2020. Neue Marktinformationen werden dem System erst am Ende des zweiten Quartals 2020 zugeführt werden. Sie können daher aus rein logischen Gründen – weder im Positiven noch im Negativen – bewusst Kriseneffekte in die Schätzergebnisse einfliessen lassen. Sie verhalten sich agnostisch. Insbesondere beinhalten solche Schätzwerte keine (spekulativen) Mutmassungen über die allfälligen preislichen Auswirkungen nach oben oder nach unten. Bei der Anwendung von hedonischen Modellen im laufenden Quartal widerspiegeln sie lediglich die Erwartungshaltungen derjenigen Akteure, die im Jahre 2019 oder im ersten Quartal 2020 tatsächlich Wohneigentum gekauft haben. Tendiert man nun zur Hypothese, dass die Immobilienpreise krisenbedingt sinken könnten, dass sollten hedonisch hergeleitete Schätzwerte mit einem moderaten Abschlag nach unten korrigieren. Bezogen auf das zweite Quartal empfehle ich wenige Prozentwerte im tiefen einstelligen Bereich. Als Faustregel gesehen spreche ich von 2 bis 4%. Erwartet man gar kurzfristige Preisaufschläge, sind selbstverständlich auch entsprechende Anpassungen nach oben durchaus angebracht.
Anders präsentiert sich die Sachlage bei konventionell «von Hand» ermittelten Schätzwerten. Sie, die Sachlage, gestaltet sich hier definitiv anspruchsvoller. Menschliches Denken und Handeln ist eng mit dem jeweiligen Kontext verbunden. Daher bringt die naheliegende und berechtigte Frage an den Schätzer, ob und in welchem Ausmass sein individuell-konkretes Schätzergebnis von den aktuellen Umständen beeinflusst wenig bis nichts. Auch werden selbst die versiertesten Schätzer in der Regel kaum in der Lage sein, annahmegemäss ein fiktives «Corona-freies» Schätzergebnis zu Vergleichszwecken bekannt zu geben. Alles ist in der Schwebe und spekulativ. Ob wie der Schätzer bewusst oder unbewusst einen «Corona-Faktor» eingepreist hat, wird man nie in Erfahrung bringen können. Es ist wie bei den erwarteten konjunkturellen Effekten des Brexits. Die britische Volkswirtschaft steckt mit dem Corona-Krise und dem Vollzug des Austritts aus der EU in einem systemischen Schraubstock. Beides wirkt gleichzeitig.
Zwar hat der klassische Schätzer gegenüber hedonischen Modellen einen Daten- und Wissensvorsprung in Echtzeit. Das ist keine Frage. Aber in diesem Tagen dürfte die Wahrscheinlichkeit von Fehl- und Falschinterpretation von Marktsignalen durch die Schätzer höher als üblich zu veranschlagen sein. Im Wissen um dieses Dilemma geht meine Empfehlung dahin, die angestammte Bandbreite von +/-10% – bezogen auf den Schätzwert – vorübergehend auf mindestens +/-15% einzupegeln. Wie bei den hedonischen Schätzwerten auch erscheint eine periodische Neubeurteilung dieser Faustregel im quartalsweisen Rhythmus zweckmässig.
Was ist die Moral der Geschichte?
Die folgende Metapher hinkt; aber ich benutze sie trotzdem: In echten Krisensituationen mag es, punktuell betrachtet, unter Unterständen rational und vernünftig sein, sich – bildlich gesprochen – auf den Autopiloten statt auf einen erfahrenen Piloten zu verlassen. Maschinen lassen sich weder von Viren anstecken noch von ihnen beeinflussen. Menschen hingegen schon. Maschinen sind stur. Sie hegen weder Wunschdenken noch hängen sie möglichem apokalyptischem Gedankengut nach. Sie spulen genügsam ihr Programm ab.
Zum Schluss noch dies: Die Grafik zeigt das Ergebnis einer monetären Bewertung einer Liegenschaft. Drei Schätzungen wurden konventionell mit Besichtigungen vor Ort durchgeführt. Weitere sieben Schätzungen wurden mit hedonischen Modellen durchgeführt. Die Bewertungen beziehen sich bis auf einen Ausnahme auf das erste Quartal 2020. Hedonisch hergeleitete Marktwerte sind als grüne Dreiecke dargestellt, konventionell bestimmte mutmassliche Marktwerte als blaue Quadrate. Der rote Kreis in der Mitte symbolisiert einen kürzlich erzielen Verkaufspreis für diese Liegenschaft.
Quellen:
https://www.fpre.ch/de/produkte/immobilien-preisindizes/
https://www.iazicifi.ch/produkt/swx-iazi-indizes/?parents=535,106
https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-corona-krise-fuehrt-bei-der-snb-zu-einem-verlust-von-38-milliarden-franken-ld.1553120
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20113021
https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/seco/nsb-news.msg-id-78887.html
https://www.six-group.com/exchanges/statistics/monthly_data/overview/2020_de.html
https://www.snb.ch/de/mmr/reference/pre_20200423/source/pre_20200423.de.pdf
https://www.wuestpartner.com/online_services_classic/immobilienindizes/grossraeumiger-transaktionspreisindex/index.phtml
Bildnachweis:
dr. urs hausmann strategieberatung, April 2020