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Blick in die Kristallkugel


Wer kennt nicht das folgende Bonmot? «Prognosen sind eine schwierige Sache. Vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.» Eine so saloppe wie pointierte Bemerkungen, die immer für ein Schmunzeln gut ist. Die Urheberschaft dieses Aphorismus wird etlichen Personen zugeschrieben: etwa dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835-1910), dem dänischen Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr (1885-1962) oder dem deutschen Kabarettisten Karl Valentin (1882-1948). Umso mehr mag es erstaunen, wenn sich Prognosen mit einem langfristigen Zeithorizont als richtig und treffsicher erweisen.

Am 23. September 2018 stehen zwei agrarisch ausgerichtete Volksinitiativen zur Abstimmung. Es geht dabei um die Art und Weise, wie die in der Schweiz angebotenen und konsumierten Nahrungsmittel produziert werden, und welchen geographischen Ursprung sie haben sollen bzw. dürfen. Zur Übungsanlage: Der aggregierte Nettoselbstversorgungsgrad bewegte sich im Jahr 2017 um die 50%. Die Tendenz über die vergangenen Jahre war sinkend. Welches Niveau könnte diese Quote im Jahr 2077 aufweisen? Und wie viele Menschen dürften dannzumal hierzulande leben? Ohne Zweifel eine schwierige Aufgabenstellung.

Exakt auf diese Fragen ging eine im Jahr 1963 vom Schweizerischen Bauernverband publizierte Studie ein. Der damalige Vizedirektor des Verbandes, Dr. W. Neukomm, erwartete darin für das Jahr 2020, dass der Anteil der einheimischen Nahrungsmittel zwischen 40 und 50% liegen würde. Und dies wohlgemerkt bei einer erwarteten Bevölkerung von 10 Millionen Menschen. Zum Vergleich: 1960/1961 lag der kalorienmässige Selbstversorgungsgrad in der Schweiz bei 59%. Die Wohnbevölkerung erreichte Ende 1960 gerade einmal ein Niveau von 5.43 Millionen Menschen. Die Studienverfasser lagen mit ihrer Prognose, die sie vor 55 Jahren gemacht hatten, goldrichtig. Sie antizipierten das Niveau des Selbstversorgungsgrades. Auch wenn sich die aus heutiger Sicht erwartete Wohnbevölkerung im Jahre 2020 nicht bei 10 Millionen, sondern in der Grössenordnung von 8.6 Menschen bewegen dürfte. Chapeau!

Die Marke von 10 Millionen Menschen war erstens keine klassische Prognose. Sie stammte von Francesco Kneschaurek (1924-2017). Er war von 1960 bis 1990 Professor an der Universität St. Gallen. 1962 äusserte er sich dahingehend, dass «die Zukunftsvision einer Schweiz von 10 Millionen Einwohnern (...)» eine Möglichkeit sei, mit der man sich schon heute – sprich 1962 – auseinandersetzen müsse. Der genannte Wert war also als Annahme in einem Szenario zu verstehen.

Mindestens so spannend wie der korrekt vorhergesagte Prognosewert zum Selbstversorgungsgrad selbst war dessen Begründung. Erklärt wurde dieser durch die erwarteten Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft. Diese trafen tatsächlich auch ein. Trotz weniger Flächen und Arbeitskräften konnte der physische Output zwischen 1960 und heute in einem bemerkenswerten Ausmass nach oben geschraubt werden.

Und die Moral der Geschichte: Die Agrarwirtschaft besitzt in ihren Reihen nicht nur seit vielen Jahrzehnten gewiefte Lobbyisten, sondern auch treffsichere Langfristprognostiker.


Quellen:

  • Eidgenössisches Statistisches Amt (Hrsg.): Arealstatistik der Schweiz 1952, Bern 1953.

  • Eidgenössisches Statistisches Amt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1961, Basel 1961.

  • Eidgenössisches Statistisches Amt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1968, Basel 1968.

  • «NZZ» vom 8. Oktober 1962, Abendausgabe Nr. 3851, S. 1 f.

  • Schweizerische Vereinigung für Landesplanung: Gedanken zum Bodenrecht und zur Bodenpolitik, Schriftenfolge Nr. 7, Zürich 1963.

Links:


https://www.are.admin.ch/are/de/home/raumentwicklung-und-raumplanung/grundlagen-und-daten/fakten-und-zahlen/flaechennutzung.html

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/bevoelkerung.html

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/land-forstwirtschaft/landwirtschaft.html



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