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Alle Jahre wieder ... SNB orakelt und fischt im Trüben

Blick in den Rückspiegel

Wir schreiben das Jahr 2005: Im Juni veranstaltete die Waadtländer Kantonalbank eine Tagung mit der Fragestellung «Marché de l’immobilier: évolution normale ou bulle spéculative?». Im Dezember doppelte der «Tagesanzeiger» mit den Schlagzeilen «Immobilienmarkt Zürich vor Crash?» und «Der Zürcher Immobilienmarkt überhitzt» nach. Und hinter vorgehaltener Hand fragten sich ausgewählte institutionelle Investoren, ob die damals registrierten, erstaunlich hohen Transaktionspreise für Wohn- und Geschäftsliegenschaften noch als nachhaltig zu taxieren seien. Zur Erinnerung: Die Hypothekarzinssätze oszillierten zu jener Zeit um die 3%-Marke und der mietrechtliche Referenzzinssatz notierte um den Wert von 3.5%. Einige Leser mögen sich vielleicht mit einem Anflug von Nostalgie an diese Phase erinnern. Tempi passati; geblieben sind aber namhafte Stimmen, die vor Korrekturen im Schweizer «Immobilienmarkt» warnen.

Crescendo in der Berichterstattung der SNB

Drei Jahre später, am 15. September 2008, brach die Investmentbank «Lehman Brothers» zusammen. Die globale Finanzkrise erreichte einen ersten Höhepunkt. Die Lage war ernst und herausfordernd. Gleichwohl hielt die Schweizerische Nationalbank (SNB) im Sommer 2009 im ihrem alljährlich publizierten Bericht zur Finanzstabilität Folgendes fest: «... (es) sind in der Schweiz zurzeit keine Anzeichen für eine Immobilien- oder Kreditblase erkennbar.» So herrschte die Besorgnis, dass sich der Schweizer Immobilien- und Hypothekarmarkt durch die US-amerikanische Subprime-Krise infiziert könnte. Eine direkte Ansteckung blieb – wie von etlichen hiesigen Experten damals auch erwartet worden war – aus. Aber bereits ein Jahr später änderte sich die behördliche Lagebeurteilung. Mitte 2010 verkündete die SNB, dass nach einer einlässlichen, eigenen Analyse erste Anzeichen für einen Aufbau von Risiken im hiesigen Immobilien- und Hypothekarmarkt zu erkennen seien.

Seither blinken die Warnlampen ohne Unterbruch, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. In jedem der nachfolgenden Berichte zur Finanzstabilität wurden die miteinander korrelierten Risikofelder, konkret der hiesige Immobilien- und der Hypothekarmarkt, vergleichsweise prominent unter die Lupe genommen. Inhaltlich standen vorerst «nur» die Finanzierungen und die Preissteigerungen von selbstbewohntem Wohneigentum im Fokus, d. h. von Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen. Besonders moniert wurden die Preissteigerungen in Genf, in Zürich sowie in touristischen Gebieten. Dem Vernehmen nach hätten sich vor allem dort «Überbewertungen in allen Wohneigentumssegmenten» eingestellt. Dementsprechend sei das Risiko von starken Preiskorrekturen an diesen Orten besonders ausgeprägt. Mit dem Bericht zur Finanzstabilität 2015 erschien ergänzend und erstmals das Segment der «Wohnrenditeliegenschaften» auf dem Gefahrenradar der SNB. Und auch im neusten Bericht zur Finanzstabilität, der erst vor wenigen Tagen (am 21. Juni 2018) der Öffentlichkeit präsentiert wurde, finden sich detaillierte Analysen zum letztgenannten Segment, also klassischen Mehrfamilienhäusern mit Mietwohnungen für private Haushalte.


Stresstest auf Prüfstand: Prädikat «mangelhaft»

Dort sticht ein Stresstest zu den Tragbarkeitsrisiken ins Auge. Er bezog sich auf jene Gruppe von Immobilieneigentümern, die im abgelaufenen Jahr erstmals einen Hypothekarkredit beanspruchten oder eine Refinanzierung schnürten. Die von der SNB befragten 26 Hypothekarbanken deckten rund 90% des ausstehenden Hypothekarvolumens ab.

Ergebnis: Bei einem unterstellten Hypothekarzinsniveau von 5% und Kosten zum Unterhalt und Amortisation von 1% übersteigen bei gut der Hälfte dieser Eigentümer von Mehrfamilienhäusern deren gesamten Kosten die ihrerseits erwarteten Mieterträge. Das mutet krass an und lässt auf den ersten Blick aufhorchen. Es wird moniert, dass die Tragbarkeit im Schuldendienst bei einer Zinswende frappant unter Druck kommen würde.

Die Konzeption und Durchführung solcher Stresstest gehört unbestrittenermassen (auch) in der Volkswirtschaftslehre zum gängigen Rüstzeug. Es gilt dabei einen Ausschnitt der Realität oder ein spezifisches Szenario bewusst und fokussiert unter kontrollierten Bedingungen zu modellieren. Die Stresstests dienen mitunter dem Verständnis der Materie wie auch dem Risikomanagement. Für eine korrekte Interpretation der daraus resultierenden Ergebnisse spielen die getroffenen expliziten und impliziten Annahmen die Schlüsselrolle. Ihr Einbezug bei der Deutung der Ergebnisse ist konsequenterweise unverzichtbar. Ein weiteres Element beinhaltet die Würdigung der Datenqualität. Schliesslich sollen die durchgeführten Stresstests in sich konsistent sein. Systemisches Denken ist folglich unabdingbar.

Stetiger behördlicher Alarmismus ist kontraproduktiv

An dieser Stelle tut ein Hinweis auf das Schweizer Mietrecht not. Die gesetzlich verankerte zulässige Bindung von vertraglich fixierten Mietzinsen von Mietwohnungen an den mietrechtlichen Referenzzins besteht als Konzept in der heutigen Form seit 1972. Faktisch beeinflusste und beeinflusst die Verschränkung zwischen dem individuellen Mietzinsniveau und dem kollektiv geltenden mietrechtlichen Referenzzinssatz sowohl die Mietzinsen in bestehenden Mietverhältnissen als auch diejenigen bei neu abgeschlossenen Mietverträgen. So weit, so gut. Im angesprochenen Stresstest geht die SNB von einem Hypothekarzinssatz von 5% aus. Das gewählte Niveau geht als Annahme grundsätzlich in Ordnung. Der entscheidende zu kritisierende Punkt ist ein anderer. Heute steht der mietrechtliche Referenzzinssatz bei 1.5% (Stand vom 2. Juni 2018). Die diesbezüglich gewählte Umsetzung der notwendigen Ceteris-paribus-Annahme («alles andere bleibt gleich») ist im vorliegenden Fall – mit Verlaub gesagt – grober Unfug. Es wird Inkonsistentes ohne Not oder gar wider besseres Wissen unterstellt. Eine korrekte und differenzierte Modellierung sieht anders aus. Was es im Falle einer unterstellten Zinswende mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit auf sich hat, zeigt stattdessen die nachfolgende Tabelle: (*)


Zur Erläuterung: Bei einem allgemein steigenden Zinsniveau und damit auch inflationären Tendenzen spielt die bereits erwähnte Mietzinsbindung an den mietrechtlichen Referenzzinssatz direkt in die Hände der Vermieter von Mietwohnungen. Denn ein (zu Recht) vielkritisierter mietrechtlicher Anachronismus (Art. 13 VMWG) entpuppt sich in der skizzierten Konstellation als nahezu perfekter «Hedge» gegen steigende Hypothekarzinssätze. Der Schuldendienst bleibt gewährleistet. Die Eigentümer von Mehrfamilienhäusern mit Mietwohnungen blicken daher bezüglich der Tragbarkeit also grundsätzlich entspannt in die Zukunft. Über ein besonders sattes Polster verfügen dabei einerseits die Mietverträge bei kürzlich neu gebauten Mietwohnungen. Sie starten mit einem Referenzzinssatz von 1.5%. Dasselbe gilt andererseits für jene Vermieter, die in ihren Mietverhältnissen über die vergangenen Jahre ihre Mietzinsen Schritt für Schritt auf das aktuelle Niveau gesenkt haben. Hinzu kommt, dass die Mietzinsen in den zuletzt genannten Mietverhältnissen sich damit deutlich unter dem vor Ort herrschenden allgemeinen Mietpreisniveau bewegen dürften. Eine bessere Ausgangslage gibt es nicht. Unter dem Strich bestehen aber in beiden Konstellationen quasi gesetzlich garantierte Optionen, um die Mietzinsen bei steigenden Zinsen nach oben anzupassen. Selbst in Mietverhältnissen, bei denen die Mietzinse bis dato nicht oder nur teilweise dem Diktum des gesunkenen Referenzzinssatzes nach unten angepasst wurden, können bei markant steigendem Zinsniveau die Mietzinsen merklich erhöht werden. Denn die nachfragenden Haushalte haben kurz- und mittelfristig oftmals keine nennenswerten Alternativen (insbesondere scheidet der Erwerb von Wohneigentum in aller Regel wohl aus). Natürlich gilt es hier, markttechnisch zu differenzieren (was die SNB wohlgemerkt unterlassen hat). Eine echte Risikogruppe mit Blick auf die Tragbarkeit bilden hingegen tatsächlich jene Immobilieneigentümer, die kumulativ erstens die referenzzinssatzbezogenen Mietzinssenkungen in ihren Mietverhältnissen während den vergangenen Jahren nicht vollzogen haben, zweitens ihre Mietwohnungen ausserhalb von grossstädtischen Ballungsräumen anbieten. An diesen Standorten besteht seit geraumer Zeit nachweislich ein neubaubedingtes erhöhtes Leerwohnungsrisiko. Und drittens einen hohen Grad an Fremdfinanzierung für sich in Anspruch nehmen. Zu dieser Risikogruppe gehören auch die Eigentümer von mit Fremdkapital mitfinanzierten unbebauten Baulandgrundstücken und Geschäftsliegenschaften, die bereits heute substanzielle Leerstände aufweisen und/oder über keine bzw. nur einen tiefen Anteil an langfristig abgeschlossen Mietverträgen verfügen.


Individuelle Betrachtung statt Generalverdacht

Der unter die Lupe genommene Stresstest suggeriert bezogen auf die Tragbarkeit ein rabenschwarzes Bild. Er ist bezogen auf das Segment der Mehrfamilienhäuser als Ganzes schlicht irreführend. Wer bewusst mit Brandbeschleuniger – sprich mit Negativzinsen – im Namen der Geld- und Währungspolitik im Gesamtinteresse des Landes hantiert, dem ist es positiv anzurechnen, wenn über die latenten Risiken des eigenen Tuns informiert wird. Aber handgestickte Analysen und Beurteilungsschemen nach dem Muster einer Rasenmäher-Methode sind dazu nicht geeignet. Sie setzen einen falschen Fokus. Statt schwarzzumalen und Ängste zu schüren liegt die zweckmässige, praktische Handlungsanleitung bei Vergabe von Hypothekarkrediten auf der Hand: Im Rahmen der bankenseitigen Risiko- und Tragbarkeitsprüfung sind einerseits der aktuelle Mieterspiegel einzufordern. Andererseits sind alle darin aufgeführten Mietverhältnisse einzeln auf den faktischen Stand des vertraglich fixierten mietrechtlichen Referenzzinssatz hin zu prüfen. Anschliessend lässt sich mühelos eine individuelle und fundierte Aussage zur Exponiertheit gegenüber Zinsänderungsrisiken machen. Wem dieser Aufwand zu gross erscheint, muss den Vorwurf in Kauf nehmen, vorsätzlich keine sorgfältige Risikoprüfung vornehmen zu wollen. Die Prüfung der Tragbarkeit bei Mehrfamilienhäusern ist keine Raketenwissenschaft, sondern solides Handwerk. Insbesondere dürfte diese doch vergleichsweise profane Vorgehensweise in ihrer Wirkungsweise strukturellen Eingriffen wie der weiteren Verschärfung des antizyklischen Kapitalpuffers als präventive Massnahme in jeder Beziehung deutlich überlegen sein. Dazu noch ein Nebenschauplatz: Auch in jeder Marktwertschätzung eines Mehrfamilienhauses sollte die vertiefte individuell-konkrete Behandlung von Mietzinsentwicklung und Zinsänderungsrisiko in jedem Schätzungsbericht Pflicht sein. Diese Form von Transparenz böte dem Adressaten der Marktwertschätzung echten Zusatzkomfort bei seiner Risikoanalyse (Stichwort: Annahmen zum realisierbaren Mietzinspotenzial in den ersten 10 Jahren der DCF-Analyse).

Zum Schluss noch ein Hinweis zur Vermeidung von allfälligen Missverständnissen meiner Botschaft: Die erzielbaren Preise von Mehrfamilienhäusern oder die Ergebnisse von Marktwertschätzungen sind keine Einbahnstrassen. Sie, die Preise, sind im Zeitverlauf volatil. Dass sie dem Charakter von Krankenkassenprämien folgen werden, ist Wunschdenken. ABER die Koexistenz von tradierten mietrechtlichen Vorschriften mit einem äusserst moderaten nominalen Zinsniveau ist – prospektiv mit Blick auf die Tragbarkeit und dem Damoklesschwert einer substanziellen Zinswende – grundsätzlich eine Beruhigungstablette erster Güte.

(*) Set der Annahmen: Referenzzinssatz steigt bis Mitte 2023 auf 4%, jährliche Inflationsrate von einem 1% und ein mietrechtlicher Kostenzuschlag von 0.5%. Der Hypothekarzinssatz für die Kreditnehmer beträgt im Mitte 2023 annahmegemäss 5%, aber die gewählte Konstruktion des mietrechtlichen Referenzzinssatzes führt zu einer zeitverzögerten Abbildung des dereinst herrschenden Zinsniveaus. Folglich fliesst statt einem Satz von 5% der Referenzzinssatz mit nur 4% in die Modellrechnung ein. Eine weitere Annahme besteht darin, dass das Mietrecht innerhalb der nächsten fünf Jahre in den relevanten Punkten unverändert in Kraft bleibt.


Bildnachweis: «Bilanz», Nr. 5, 1990

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