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Marktprognosen entziehen sich «Milchbüechli»-Rechnungen



Wachstumseuphorie: 10 Millionen Schweiz ohne die Stadt Zürich?


Anfangs der 1960er-Jahre diskutierte man in Kreisen der Raumplanung erstmals von einer 10 Millionen Schweiz: Der Zeitpunkt: irgendwann in ferner Zukunft. Damals lief der Motor der Schweizer Volkswirtschaft auf Hochtouren. Jede Faser und jede Dimension der eidgenössischen Wirtschaft befanden sich zu dieser Zeit in ungebremsten Wachstumsmodus. Der Wachstumsmotor drohte gar zu überhitzen.


Vor diesem Hintergrund plagten die Stadtzürcher Regierung ab den 1960er-Jahren handfeste Schrumpfungsängste. Sie, die Ängste waren real. Der grössten Schweizer Stadt drohte ein massiver und langanhaltender Bevölkerungsschwund. Tatsächlich kulminierte die dortige Bevölkerungszahl im Jahre 1962. Zu dieser Zeit lebten gut 440'000 Menschen in der Limmatstadt. Danach begann eine beispiellose Talfahrt. Und die Behörden sollten mit ihren pessimistischen Einschätzungen recht bekommen. Der Tiefpunkt wurde erst 1989 erreicht. Der Bevölkerungsstand in der Stadt Zürich betrug dannzumal noch knapp 356'000 Menschen. Oder mit anderen Worten:


Rein mathematisch gesehen verliess somit jede fünfte Person die Zürcher Hauptstadt!

An dieser antizyklischen demografischen Entwicklung ist vieles bemerkenswert. Besonders frappant erscheint im Rückblick die Tatsache, dass die damaligen Perspektivmodelle der Behörden und der externen Berater sowohl die Richtung als die Höhe des Bevölkerungsrückgang korrekt antizipierten bzw. prognostizierten. Zum Vergleich: Entsprechende Prognosemodelle des Bundes rechneten mit einem fortgesetzten Bevölkerungswachstum, also einem positiven Vorzeichen. Tatsächlich nahm die Wohnbevölkerung der Schweiz zwischen 1962 und 1989 um insgesamt 20 Prozent zu. In der Stadt Zürich musste etwas Grundsätzliches zumindest anders oder gar faul sein.


Kapriolen im städtischen Wohnungsmarkt – nur scheinbar paradox


Ab 1962 also war die Stadt Zürich mit einem Bevölkerungsexodus konfrontiert. Der Wanderungssaldo war notorisch negativ, d. h. es zogen mehr Menschen weg als solche zuzogen. Hinzu kam phasenweise ein negativer Geburtenüberschuss. Es kamen weniger Kinder zur Welt als Stadtbewohner in derselben Periode starben. Bald diagnostizierte Forschende das Phänomen der Stadtflucht. Später machte ebenfalls in der Wissenschaft die «A-Stadt» die Runde, d. h. von einer Stadt «in welcher Alte, Arme, Alleinstehende, Auszubildende, Ausländer und Aussteiger dominieren» (***). Niemand erwartete eine Stabilisierung oder gar eine Trendumkehr.


Welche Auswirkungen waren in der langjährigen Phase, in der demografisches Neuland betreten wurde, auf dem städtischen Wohnungsmarkt zu beobachten? Oder wie geht das genau mit dem Mantra der Ökonominnen und Ökonomen: Angebot und Nachfrage. Der Stadtrat selbst nahm damals keine (ökonomisch ausgerichteten) Einschätzungen vor.


Schauen wir uns dazu drei Schlüsselindikatoren an: Die Mietpreise (im Bestand) entwickelten sich erstens sehr flott nach oben! Zwischen 1962 und 1989 nahmen sie im Mittel um den Faktor 3.9 zu. Der gesamtschweizerische Mietpreisindex erhöhte sich nur leicht stärker, nämlich um den Faktor 4.2. Die städtische Leerstandsquote klebte zweitens in diesem Zeitraum in der Marke «0». Fürs Protokoll: 0.09 Prozent. Zwei Referenzwerte dazu: Der Mittelwert über die letzten 120 Jahre beläuft sich auf moderate, aber doch auf 0.56 Prozent. Und im Sommer 2022 vermeldeten die amtlichen Statistiker einen Wert von 0.07 Prozent. Mit anderen Worten war der Stadtzürcher durchwegs «furztrocken». Die Wohnungssuche in der Zürcher Wirtschaftsmetropole gestaltete damals folglich mindestens so anspruchsvoll und schwierig, wie es heute der Fall ist – nota bene ohne Internet und GIS-Technologie. Drittens entstanden zwischen 1962 und 1989 insgesamt über 45'000 neue Wohnungen. Abgebrochen wurden im selben Zeitraum 8500 Wohnungen. Unter dem Strich erhöhte sich der städtische Wohnungsbestand um 36'500 Wohnungen.


Eine schweizweite harmonisierte Leerwohnungszählung existiert erst seit 1984. Auch hier ein Vergleich für das Jahr 1989: Während in der Stadt Zürich ein Wert von 0.02 Prozent ausgewiesen wurde, betrug die gesamtschweizerische Leerstandsquote immerhin 0.49 Prozent. Nebenschauplatz: Im letzten Sommer wurde eine solche von 1.31 Prozent für die Schweiz verkündet. Man vergiss frühere Realitäten sehr rasch, wenn neuerdings einmal mehr von «Wohnungsnot» gesprochen wird.


Kein Dichtestress, sondern frivoler Mehrkonsum von Wohnfläche pro Kopf


Die steigenden Mietpreise in der Stadt Zürich in der untersuchten Periode von 1962 bis 1989 lassen sich problemlos erklären. Die Zusatznachfrage war primär hausgemacht. Die Zuwanderung als erklärende Variable konnte faktisch – wie bereits erläutert – ausgeschlossen werden. Es gab zwei Haupttreiber, welche die Zusatznachfrage nach Wohnraum nährte und beflügelte: Erstens die Dynamik der Haushaltsentwicklung: Zwischen 1960 und 1990 erhöhte sich die Anzahl der privaten Haushalte um gut 25 Prozent auf 189'300 Haushalte. Während sich die Gruppe der Haushalte mit drei und mehr Personen absolut verkleinerte, nahm die absolute Anzahl der 2-Personen-Haushalte deutlich zu und diejenige der 1-Personen-Haushalte explodierte. Schon 1990 wurden die Hälfte aller Wohnung «nur» durch je Person bewohnt. Die Belegungsdichte pro Wohnung, also die Anzahl Personen pro Haushalt, nahm innerhalb von 30 Jahren von 2.9 auf 1.9 Personen ab. Parallel erhöhte sich der Konsum von Wohnfläche pro Kopf. Er stieg zwischen 1970 (ältere Daten existieren nicht) und 1989 um 10 Quadratmeter auf rund 40 Quadratmeter pro Kopf (*).


Zwischenbilanz: Bei steigenden Mietzinsen «konsumierten» deutlich mehr Haushalte, aber absolut gesehen immer weniger Menschen, substanziell mehr Wohnfläche pro Kopf. Die Zahlungsbereitschaft in Franken wie auch der Konsum von Wohnfläche in Quadratmetern nahm in der Stadt Zürich über die Jahre stetig und substanziell zu.


Es fand nachweislich eine ENTDICHTUNG im doppelten Sinne statt: Erstens nahm die städtische räumliche Bevölkerungsdichte ab. Lebten 1960 noch 52 Menschen pro Hektare Landfläche waren es 1990 noch deren 48 (ohne Waldflächen gemessen) (**). Zweitens hatten die Einwohner, wie bereits dargelegt, in ihren eigenen vier Wänden individuell nachweislich mehr Wohnfläche pro Kopf zur Verfügung. Sogenannter Dichtestress dürfte sich anders manifestieren. Querverweis: Effektiv zugelegt hat in diesem Zeitfenster die Anzahl der Beschäftigten, die auf dem Stadtgebiet einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Sie erhöhte sich von 1960 bis 1991 um circa 80'000 auf knapp 360’000 Menschen. Folglich wuchs die Zahl der Pendler. Entsprechend stieg die Intensität im Verkehr generell sowohl innerhalb der Stadt als auch im eigenen Agglomerationsraum.

Ein Hinweis der Vollständigkeit halber:
Im Laufe des vergangenen Herbsts wurde in der Stadt Zürich der Bevölkerungsstand vom Jahre 1962 erstmals wieder erreicht und erstmals auch überschritten. Dieser «Aufholprozess» dauerte sage und schreibe ziemlich genau 60 Jahre. Der Wohnungsbestand wurde während dieser Zeit von rund 144'000 auf 230'000 Einheiten hochgeschraubt. Kräftig an Präsenz zugelegt hat damit in erster Linie die gebaute Umwelt in der Stadt Zürich.

Moral von der Geschichte: räumliche Marktprozesse sind vielschichtig


1. Der mutmassliche Zusatzbedarf an Wohnraum bzw. Wohnungen in absehbarer Zukunft wird mindestens so stark durch die Art der Haushaltsbildung beeinflusst wie durch das schiere Wachstum der Bevölkerung. Erstere wiederum hängt von unterschiedlichen Faktoren wie vorherrschenden Lebensformen und -muster (u. a. Familiengründung), der Altersstruktur der Bevölkerung oder dem institutionellen Rahmen (u. a. Steuergesetzgebung) ab.


2. Die Art und die Höhe der mutmasslichen Zusatznachfrage nach Wohnungen bzw. Wohnraum wird massgeblich durch die Wohnpräferenzen der neu gebildeten Haushalte geprägt. Ein Schlüsselfaktor bei dieser Nachfrage bildet die Höhe des verfügbaren Haushaltseinkommen. Die Vergangenheit lehrt uns, dass die Zahlungsbereitschaft (vielleicht auch der Zahlungszwang) für Wohnraum hoch und stabil ist. Verhaltensänderungen, Verzicht oder Substitution sind nicht erste Wahl.


3. Die wirtschaftshistorische Fallstudie mit der Stadt Zürich fördert eine dritte Erkenntnis zu Tage: Das Schweizer Mietrecht (im Obligationenrecht geregelt) wirkt und wirkte flächendeckend als «zuverlässiger» Taktgeber für die Entwicklung der Mietzinsen in bestehenden Mietverhältnissen für Mietwohnungen. Der Spielraum für ein Absinken des generellen städtischen Mietpreisniveaus war und ist in Phasen mit schwachen Nachfrageimpulsen marginal bis inexistent. Effektiv vorhandene oder mutmassliche Marktergebnisse werden durch diese Normen je nach Marktsituation vor Ort entweder stabilisiert (bei einer Baisse) oder verstärkt (bei einer Hausse).


Was bleibt unter dem Strich?


Das verlässliche Antizipieren von möglichen Marktentwicklungen auf dem Wohnungsmarkt – unabhängig von deren Grösse und räumlichen Abgrenzung – ist und bleibt ein äusserst anspruchsvolles Unterfangen. Gleichwohl sind sie richtig und wichtig. Um aber gehaltvolle Schlüsse aus solchen Studien oder Publikationen zu ziehen, ist ein einlässliches Studium der getroffenen Annahmen unerlässlich. Die Essenz liegt nicht und nie in der fetten Schlagzeile, sondern im Kleingedruckten. Hier liegt der Hase im Pfeffer.


So wäre es aus Investorensicht wohl ein grober Schnitzer gewesen, wenn man in den Jahren des demografischen Abschwungs das erwähnte Narrativ der A-Städte für bare Mütze genommen und sich von eigenen Mehrfamilienhäusern verabschiedet hätte, bzw. nicht mit Zuversicht in solche urbanen Standorte, sei es über Projektentwicklungen, sei es über die Akquisition von bestehenden Häusern, kräftig investiert hätte. Denn die Erkenntnis, dass die Stadt Zürich ein attraktiver Wohn-, Arbeits- und Investitionsstandort war altbekannt. Denn schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte der Zürcher Pfarrer Johann Heinrich Waser – seines Zeichens ein Pionier auf dem Gebiet der Statistik und der Volkswirtschaftslehre – fest, dass «nirgendswo in der Welt die Wohnungen verhältnismässig so teuer und kostbar sind, als bei uns in Zürich.» Bis heute hat er recht behalten.


(*) In Genossenschaftswohnungen fand zwischen 1960 bis 2000 kein nennenswerter Flächenzuwachs pro Kopf statt.

(**) Statistisches Jahrbuch der Stadt Zürich, 1992, S. 16.

(***) Frey, René L.: Städtewachstum und Städtewandel, eine ökonomische Analyse der schweizerischen Agglomerationen, Basel 1990, S. 18.


Quellen:


Bildquelle

Nebelspalter, 1990, Nr. 45, S. 13 von Werner Büchi.


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