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Lupenreiner Pyrrhussieg und Schmalspurökonomie in einem: Lausanne hat gesprochen


Das Bundesgericht in Lausanne ist immer wieder für eine Überraschung gut. Nachfolgend geht es um ein Urteil zu einem mietrechtlichen Streitfall: Die bekagte Vermieterin bekommt zwar vor dem höchsten Gericht recht. Aber gleichwohl muss sie ihren ursprünglichen Mietzins pro Monat um mehr als einen Drittel reduzieren. So geschehen mit dem Urteil 4A_554/2019 vom 26. Oktober 2020. Stein des Anstosses bildet eine Mietzinserhöhung bei einem Mieterwechsel. Einschlägig dazu ist Art. 270 OR. Er regelt die Anfechtung des Anfangsmietzinses.


Das fragliche Mietobjekt – eine 4.5-Zimmer-Mietwohnung mit einer Wohnfläche von 101 Quadratmetern befindet sich einem Mehrfamilienhaus. Es wurde Ende der 1990er-Jahre im Zuge einer Arealüberbauung auf der grünen Wiese in einer Waadtländer Gemeinde erstellt (Gemeindtyp: städtische Gemeinde einer grossen Agglomeration). Die Vermieterin besitzt an diesem Standort – verteilt auf mehrere Gebäude – insgesamt 122 Wohnungen.

Ausgangslage und Richterspruch

Die heutige Eigentümerin des Mehrfamilienhauses – eine Pensionskasse – und ein neuer Mieter unterzeichnen den Mietvertrag Mitte Juni 2017. In der Folge reicht dieser Mieter eine Herabsetzungsklage ein. Statt dem vertraglich vereinbarten Mietzinszins (exklusive Nebenkosten) von 2'190 Franken pro Monat macht er vor der Schlichtungstelle einen solchen von 814 Franken geltend. Er pocht dabei auf die Feststellung eines missbräuchlichen Mietzinses (gemäss Art. 269 OR und Art. 269a OR). Der klagende Mieter bekommt sowohl vor der ersten als auch vor der zweiten gerichtlichen Instanz recht. Der korrigierte, mietrechtlich nicht mehr missbräuchliche Mietzins pro Monat (exklusive Nebenkosten) wird Waadtländer Kantonsgericht bei exakt 900 Franken festgelegt. Der Forderung der Vermieterin, der Mietzins sei bei 1'950 Franken festzulegen, schenkt das Gericht kein Gehör. Zum direkten Vergleich: Für die fragliche Mietwohnung hatte der Vormieter von 2009 bis zu seinem Auszug 2017 anstandslos einen monatlichen Mietzins von 2'020 Franken bezahlt.


Den skizzierten Basar beendet das Bundesgericht nach Durchführung eigener Zahlenakrobatik wie folgt: Der nicht missbräuchliche Mietzins (exklusive Nebenkosten) beträgt nach höchstrichterlichem Verdikt rückwirkend ab August 2017 1'390 Franken: Damit haben sich fast 10'000 Franken geplante Mietzinseinnahmen pro Jahr in Luft ausgelöst.


Erklärender Hintergrund

Das Schweizer Mietrecht kennt mehrere Kriterien zur Überprüfung von Mietzins auf eine allfällige Missbräuchlichkeit. Im vorliegenden Fall kommt dasjenige der Nettorendite zur Anwendung. Gemäss Rechtsprechung und Lehre wird darunter die Nettorendite auf den vom Vermieter investierten Eigenmitteln verstanden (BGE 122 III 257 E. 3a). Eigenmittel steht für «Eigenkapital» oder «risikotragendes Kapital».


Der eigentliche Clou an der mietrechtlichen Renditeberechnung ist nun derjenige, dass sich das relevante Eigenkapital nicht aus einem geschätzten Verkehrswert zum Zeitpunkt der Mietzinsanfechtung abzüglich Fremdkapital herleitet wird. Vielmehr dient das ursprünglich investierte Eigenkapital als Referenz und Ausgangspunkt für die fragliche Renditeberechnung. Bisher durfte dieses Eigenkapital gemäss geltender Rechtsprechung nur, aber immerhin mit 40% der aufgelaufenen Teuerung indexiert werden. Neu lässt das Bundesgericht eine vollständige Aufrechnung, also 100% zu. Zitat aus dem Urteil: «Il y a donc lieu d'admettre que le 100 % des fonds propres investis doivent être réévalués selon l'indice suisse des prix à la consommation.» Das Gericht hält also lapidar fest, dass in Zeiten von tiefen Inflationsraten nichts gegen vollständige Anpassung sprechen würde. Eine epochale Kehrtwende. Beispiel: Bei einem ursprünglichen Eigenkapital von 1 Mio. Franken aus dem Jahr 2000 wird per heute 1.084 statt wie bisher 1.033 Mio. Franken zur Herleitung der gesuchten Eigenkapitalrendite angerechnet. Seitenblick: Dass sich die Transaktionspreise für Mehrfamilienhäuser in den letzten 20 Jahren um mehr als 5% erhöht haben, darf als bekannt angenommen werden.


Die Höhe des maximal zulässigen Nettomietertrags aus der Mietsache bestimmt sich als prozentualer Wert aus dem teuerungsangepassten Eigenkapital. Bisher galt der mietrechtliche Referenzsatz plus 0.5-Prozentpunkte (50 Basispunkte) als Obergrenze für die zulässige Rendite. Im neusten Urteil des Bundesgericht wird diese Marke merklich und substanzielle nach oben verschoben. Zitat aus dem Urteil: «Au vu de ce qui précède, il y a lieu de fixer le taux admissible à 2 % en sus du taux hypothécaire de référence lorsque celui-ci est égal ou inférieur à 2 %.» Liegt der mietrechtliche Referenz bei 2% oder darunter (Stand im November 2020: 1.25%), dann gilt nicht ein Zuschlag von 0.5%, sondern ein solcher von 2.0%. (Kleinkarierte persönliche Anmerkung: Sowohl die Gerichte als auch die Mehrheit der Lehre weigert sich notorisch, mathematisch korrekt von Prozentpunkten oder Basispunkten zu sprechen. Geschrieben wird «2%», gemeint sind aber 2 Prozentpunkte.) Beispiel für die neue Regelung: Der mietrechtlich maximale Nettomietertrag darf bei einem angenommenen Eigenkapital von 1.084 Mio. Franken neu 35'230 Franken (1.25% plus 2.0%) statt wie bisher 18'970 Franken (1.25% plus 0.5%) betragen. Aus Sicht der Vermieter bzw. der Eigentümer der Mietobjekte eine frappanter Sprung nach oben! Ist damit alles gut? Leider Nein. Nachfolgend finden sich ein paar grundsätzliche Gedanken dazu.


Zentrale Kritikpunkte

  1. Es war und ist sachlich und ökonomisch nicht nachvollziehbar, was die Umsetzung des verfassungsmässigen Auftrags, nämlich Vorschriften mitunter gegen missbräuchliche Mietzinsen zu erlassen, mit Renditevorschriften, sei es eine Netto-Cashflow-Rendite auf das Eigenkapital, sei es basierend auf einer Brutto-Cashflow-Rendite auf das eingesetzte Kapital mit dem absolut berechtigten und notwendigen Anspruch auf einen Mieterschutz vor Missbräuchen zu tun hat. Renditen sind grundsätzlich falsche Indikatoren, um Missbräuche mit Blick auf das Niveau von Mietzinsen zu messen oder deren Höhe zu begrenzen. Punkt. Insbesondere ist es nicht die Aufgabe des Mieterschutzes dafür zu sorgen, das die Vermieter bzw. die Eigentümer von Mietobjekten ein Mindestniveau einer Cashflow-Rendite für ihre getätigte Investition erzielen können bzw. sich im Streitfall darauf berufen können. So begründet das Bundesgericht die Erhöhung von 0.5-Prozentpunkten auf 2-Prozentpunkten ausdrücklich damit, dass die Pensionskassen als Investoren auch und weiterhin im herrschenden Tiefzinsumfeld ihre Rentenansprüche der Destinatäre im Auge behalten müssten. Diese Bemerkung lässt aufhorchen. Wie hätte wohl das Bundesgericht an dieser Stelle argumentiert, wenn die beklagte Partei keine Pensionskasse gewesen wäre...? Wohl niemand würde in Analogie dazu auf die Idee kommen, dass Anlagen in Aktien für Aktionäre grundsätzlich oder auch nur für Pensionskassen eine gesetzlich festgeschriebene Mindestdividende generieren müssen. Eine solche Argumentation überzeugt auf der ganzen Linie nicht. Das Bundesgericht bestätigt im Weiteren die seit vielen Jahrzehnten Rechtspraxis, dass das Niveau des nicht missbräuchlichen direkt mit der Höhe des Eigenkapitals gebunden ist. Das ist nicht neu. Vielmehr wird damit die angestammte Praxis einmal mehr bestätigt, aber mit der Indexierung von 100% in der Wirkungsweise noch akzentuiert. Investoren, die mit viel oder ausschliesslich Eigenmittel zur Finanzierung ihrer Mietobjekte einsetzen, durften bis anhin und auch weiterhin vergleichsweise höhere, nicht missbräuchliche Mietzinsen verlangen und umgekehrt. Was aber hat (wirkungsvoller) Mieterschutz mit der Finanzierungsstruktur der Mietsache zu tun?

  2. Pikant ist in diesem Zusammenhang zudem das Folgende: Die Erhöhung von 0.5- auf 2-Prozentpunkte als Missbrauchsgrenze hat das Bundesgericht mit ausdrücklichem Verweis auf eine noch hängige parlamentarische Initiative in sein Urteil geschrieben. Der fragliche Vorstoss selbst wurde vom Waadtländler Nationalrat Olivier Feller (FDP) im Herbst 2017 im Parlament eingereicht (17.491). Seit 2018 befindet sich dieser in der parlamentatischen Vorprüfung. Im August 2020 hat nun die Rechtskommission des Ständerats beschlossen, der fraglichen Initiative keine Folge zu leisten. Bald wird sich der Ständerat mit der Materie befassen. Der Nationalrat hingegen steht dem Ansinnen einer Anpassung des Zuschlags nach oben positiv gegenüber. Vor diesem politischen Hintergrund ist es m. E. stossend, wenn das Bundesgericht ohne Not einen materiellen Vorschlag vorauseilend in sein Urteil aufnimmt und nicht das Ergebnis der politischen Debatte dazu abwartet. Ein Vorpreschen des Bundesgerichts mutet nach dem Prinzip der staatlichen Gewaltentrennung geradezu als übergriffig an. Die materielle Veränderung von wesentlichen Parametern in geltendem Recht obliegt dem Parlament oder der Exekutive, sicher aber nicht dem Gericht. Schliesslich irren sich beide, das Bundesgericht und Nationalrat Feller, wenn sie jeweils mit disfunktionalen Ergebnissen argumentieren, die auf historischen Höchst- oder Tiefstwerten beim mietrechtlichen Referenzzinssatz fussen. Als die entsprechenden Regeln im Mietrecht geschaffen wurden – nämlich während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – schwankten die relevanten Hypothekarzinsen um die Marke von 4%.

  3. Der unter Punkt 2 aufgeführte Vorstoss von National Feller läuft unter dem Titel «Zeitgemässe Berechnung der zulässigen Rendite im Mietrecht». «Zeitgemäss» bezieht sich dabei auf das zulässige Niveau der Renditeberechnung im Ergebnis der statistischen Berechnung. Aus ökonomischer Sicht aber verkennt die eingeschlagene Stossrichtung eine fundamentale ökonomische Gesetzmässigkeit. Die Cashflow-Rendite einer Investition bezogen auf einen Zeitpunkt oder -raum bemisst sich nie an den ursprünglichen Investitionen bzw. dem historischen Kaufpreis. Daran ändert auch eine Indexierung nichts. Sachlich richtig und faktisch relevant als Bezugsgrösse im Nenner der Formel zur Renditeberechnung sind die aktuell gebundenen finanziellen Mittel, d. h. der geschätzte Marktwert der Mietsache bzw. der gesamten Anlage (Stichwort Opportunitätskosten). Alles anderes ist Augenwischerei, Selbsttäuschung und letztlich ein Negieren von ökonomischen Grundgesetzmässigkeiten. Oder anders formuliert: Wenn überhaupt die Rendite als Kenngrösse zur Überprüfung der Missbräuchkeit politisch gewollt sein sollte, dann sollte zumindest die Berechnung fachlich korrekt erfolgen. Im Nenner der Renditeformel wäre der geschätzte Marktwert einzusetzen. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass dieses Missbrauchskriterium im Schweizer Mietrecht auch nur im Ansatz zielführend ist. Dass im konkreten Fall «Schmalspurökonomie» betrieben wird, erklärt sich – sie ahnen es – durch ein Urteil des Bundesgerichts. Es datiert vom 5. März 1921! Leider ist ökonomisches Gedankengut nicht Gegenstand von richterlichen Überprüfungen. Im konkreten historischen Fall ging es stattdessen um den Vorwurf der Willkür. Und ja, konsequent immer etwas Kreuzfalsches anwenden, kann nicht als willkürlich taxiert werden.

  4. Das Bundesgericht ist nach rechtstaatlichen Prinzipien in der Regel nicht dazu da, Kernaufgaben oder überhaupt Aufgaben der Legislative zu übernehmen. Letztere soll sich um die Schaffung von Gesetzen kümmern. So schreibt das Bundesgericht im fraglichen Urteil völlig korrekt das Folgende: «... proposent une refonte complète du système, question qui n'est pas du ressort du Tribunal fédéral, chargé de contrôler, sur action en contestation du locataire, si le rendement net est excessif (art. 269 CO), mais du législateur.» In den Medien wird das besprochene Urteil mehrheitlich im Grundtenor als «vermieterfreundlich» kommentiert. Die NZZ titelt beispielsweise mit «Das Bundesgericht stärkt mit einer Praxisänderung die Stellung der Vermieter.» Das kann man (vordergründig) durchaus so interpretieren. Auch der Umkehrschluss, dass das Urteil die Stellung von Mietern vergleichsweise schwächt, dürfte zulässig sein. Des Pudels Kern liegt letztlich woanders. Mit diesem oder gleichgelagerten Gerichtsurteilen erhält die seit vielen Jahrzehnten im Schweizer Mietrecht betriebene «Plästerli-Politik» weiter Sukkurs. Die Tragik und Wirkung solcher Urteile liegen meines Erachtens darin, dass der Politik so Druck genommen wird, das mehr als angestaubte Mietrecht im Rahmen eines Gesetzgebungsprozess zu reformieren, zu modernieren und endlich einen effektiven Mieterschutz zu implementieren. Insofern sendet das besprochene mietrechtliche Urteil auf einer politisch-strategischen Ebene, einmal mehr, ein falsches Signal aus. Es entbehrt gleichzeitig auch nicht einer gewissen Ironie, dass sich der Nationalrat im Juni 2019 gegen eine angedachte Auslegeordnung im Mietrecht durchringen konnte. Verantwortungsbewusste politische Voraussicht sieht anders aus. Neue Gesetze werden am Laufmeter produziert. Dagegen werden bestehende, marode gewordene Gesetze selten reformiert und wieder zukunftstauglich gemacht.

Zum Schluss noch dies: Die rechtlich wie ökonomisch angemessene Leitlinie für einen zeitgemässen Mieterschutz steht übrigens seit über 100 Jahren im Allgemeinen Teil des Schweizerischen Obligationenrechts: die Übervorteilung (Art. 21. Abs. 1 OR). Um es klipp und klar auf den Punkt zu bringen: Ein Mieterschutz, der auf – ökonomisch richtig oder falsch berechneten – Renditen als Kriterien zur Bestimmung von missbräuchlichen Mietzinsen basiert, war, ist und bleibt auf dem Holzweg.

Quellen:

https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/4a_0554_2019_yyyy_mm_dd_T_d_11_07_27.pdf

Urteil des Bundesgerichts vom 26. Oktober 2020 4A-554/2019

https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten /2019/20190620172248266194158159041_bsd162.aspx


Hinweise:

Hausmann, Urs: Vertragsfreiheit im Schweizer Mietrecht von 1804 bis 2014 unter besonderer Berücksichtigung des Mietzinses, Diss. Universität St. Gallen, Nr. 4464, Zürch/St. Gallen 2016.

Entscheidung des Bundesgerichtes i. S. Flachsmann gegen Regierungsrat des Kantons Zürich vom 5. März 1921, S. 3 f. Die Unterstreichung ist im Original vorhanden. Urteil im StAZH im Dossier mit Signatur Mieterschutz P 307.7 Mieterschutz 1921, Allgemeines und Nummern 1-369.


Bildnachweis:

Schweizerischer Haus- und Grundeigentümer, 15. März 1943, S. 43.

Einfärbung durch den Autor.

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