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Wählen zwischen zwei Krankheiten, der Pest und der Cholera

Rekordverdächtige Hypothekarverschuldung

Die mutmassliche hypothekarische Gesamtverschuldung in der Schweiz liegt gegenwärtig in der Grössenordnung von rund 1.1 Billionen Franken (Schätzung Herbst 2019). Davon gehen rund 95% auf das Konto von kreditgebenden Banken. Unter Bereinigung von Hypothekarkrediten, die nicht an Private gesprochen wurden, ergibt sich unter dem Strich eine hypothekarische Verschuldung von rund 264'000 Franken pro Haushalt. Zum Vergleich: Dies entspricht 2.2 Mal dem mittleren jährlichen Haushaltseinkommen. Diese Statistik hinkt offensichtlich, und zwar insofern, dass circa 60% der Haushalte nicht in einem Eigenheim leben, sondern einen Mieterhaushalt bilden. Folglich liegt die effektive mittlere hypothekarische Verschuldung der Haushalte, die tatsächlich Eigentümer von Wohneigentum sind, substanziell höher. Spannend wäre es natürlich deren statistische Verteilung zu kennen. Dazu fehlt es aber an geeignetem Zahlenmaterial.

Auf einer volkswirtschaftlichen Ebene ist der jährliche aggregierte Hypothekenbestand zwischen 1906 und 2018 in lediglich drei (!) Jahren nicht gewachsen bzw. marginal geschrumpft: 1936, 1941 und 1942. Ein Mangel an Baumaterialen für zivile Bauten und eingetrübte Zukunftsperspektiven dämpften damals die Nachfrage nach Krediten nur vorübergehend. Denn in den vergangenen 112 Jahren betrug die dazugehörige jährliche Wachstumsrate 5.5%, diejenige des nominalen Bruttoinlandproduktes (BIP) 4.84%. Zwischen 1906 und 2018 hat sich das Verhältnis von Hypothekarvolumen um nominalen BIP von gut 73% auf knapp 150% erhöht, d. h. es hat sich verdoppelt. Damit ist die absolute jährlich Hypothekarverschuldung pro Kopf der Wohnbevölkerung seit 30 Jahren strukturell höher als das dazugehörige BIP pro Einwohner. Die Diagnose ist so einfach wie klar: Die hypothekarische Verschuldung in der Schweiz ist gemessen an der Wohnbevölkerung einerseits und am BIP andererseits erstens markant gewachsen und hat zweitens 2018 ein Allzeithoch erreicht. Sollten nun die Alarmlocken schrillen?

Rückblende: Als die Welt nicht heil aber anders war

Wirtschaftshistorische Rückblende ins Jahr 1940: Über die monetäre Wertentwicklung von gebauten Häusern (dem Gebäudebestand) und den dazugehörigen Bodenflächen weiss man fast nichts. Eine rare Ausnahme macht eine statistische Erhebung, die von der Eidgenössischen Steuerverwaltung im Jahre 1940 zur damaligen Wehrsteuer gemacht wurde. Vor, um und nach dem Jahr 1940 bewegten sich die Zinssätze für erste Hypotheken um 3.75%. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte mehrjährige Inflation ein. Sie brachte jährliche Teuerungsraten von 10 und mehr Prozent. Die Zinssätze für Hypotheken blieben davon während und auch nach diesem Inflationsschub unberührt. Oder mit anderen Worten: die realen Zinsen waren während einer kurzen Ausnahmezeit deutlich negativ.

Der eingangs angetönte glückliche Datenfund aus dem Jahr 1940 beinhaltet das Folgende: Im nationalen Durchschnitt betrug der mittlere hypothekarische Verschuldungsgrad – gemessen an ihrem gesamten steuerbaren Grundstücksvermögen – für die Gruppe der natürlichen Personen im Jahre 1940 genau 51.8%. Die Vermögenswerte repräsentierten für steuerliche Zwecke erhobene Verkehrswerte. Kantonale Extremwerte fanden sich dabei mit 71.3% nach oben im Kanton St. Gallen und mit 27.2% nach unten im Kanton Genf (vgl. Grafik). Der Spitzenwert in der Ostschweiz erklärt sich massgeblich durch die dortige Schlüsselbranche, der Stickereiindustrie, welche in den Zwischenkriegsjahren förmlich kollabierte. Soweit, so gut.

Szenenwechsel: Wird nun ein analoger Kennwert für die Gegenwart berechnet, resultiert – Überraschung – mit rund 40% im schweizweiten Mittel ein merklich tieferer Verschuldungsgrad als dies während des Zweiten Weltkrieges der Fall war. Wenn man genau nimmt, dürfte der aktuelle Verschuldungsgrad von Privatpersonen gar noch tiefer liegen. Die Erklärung dafür ist technischer Natur. In der von mir verwendeten Statistik der Schweizer Nationalbank werden «nur» die Marktwerte von Wohnimmobilien (Wohneigentum und Mehrfamilienhäuser), nicht aber diejenigen von allen anderen Arten von Liegenschaften, die von Privatpersonen gehalten werden, in die Berechnung miteinbezogen werden. Umgekehrt werden jedoch sämtliche der ausstehenden Hypothekarschulden von Privatpersonen ausgewiesen. Es resultiert auf einer aggregierten Ebene somit eine tendenzielle Überzeichnung des hypothekarischen Verschuldungsgrades der privaten Haushalte, die Wohnimmobilien zum Eigennutz oder zu Anlagezwecke halten.

Aus dem direkten Vergleich der beiden Kennwerte von 1940 und 2018 lässt sich somit ableiten, dass der aktuell gemessene hypothekarische Verschuldungsgrad im Kontext des volkswirtschaftlichen Datenkranzes bemerkenswert hoch ist, aber die vermögenstechnische Pfandsicherheit seitens der Gläubiger dennoch deutlich robuster Sicherheit ausfällt als dies in der Vergangenheit der Fall war. Trotz höherer volkswirtschaftlicher Verschuldung dürfte heute der «Puffer» gegenüber namhaften Preisrückgängen grösser sein als dies vor etlichen Jahrzehnten der Fall war. Folglich darf eine zügige Zunahme des Hypothekarvolumens nicht ungeprüft oder automatisch mit einem erhöhten Gefährdungspotenzial für das Finanzsystem gleichgesetzt werden. Selbstverständlich haben die breit abgestützten Preissteigerungen von Liegenschaften, die in der letzten 15 bis 20 Jahren verzeichnet wurden, zu dieser vorteilhaften Konstellation beigetragen.

Weiter gilt es den jeweiligen Kontext möglichst umfassend mit in die jeweilige Risikoanalyse miteinzubeziehen. Historisches Anschauungsmaterial erster Güte, die für eine ganzheitliche Betrachtung spricht, liefert der landwirtschaftliche Sektor. Seit mehr als 100 Jahren finden sich immer wieder Signale für Überschuldungen von landwirtschaftlichen Betrieben. Einen exemplarischen Einblick liefert die Botschaft des Bundesrates über die Erweiterung der Kredithilfe für notleidende Bauern. Die hypothekarische Verschuldung pro Hektare hatte sich zwischen 1914 und 1930 je nach Kanton teilweise mehr als verzweifacht. Für das Jahr 1930 schätzte das schweizerische Bauernsekretariat die landwirtschaftlichen Grundpfandschulden auf knapp 4.2 Milliarden Franken. Zum zeitgenössischen Vergleich: Das nominale BIP der Schweizer Volkswirtschaft wurde für das Jahr 1940 auf rund 11.3 Milliarden Franken veranschlagt. Und das Gesamtvolumen der von den Schweizer Banken ausgewiesene Hypothekarvolumen belief sich auf 7.1 Milliarden Franken. In Anbetracht der Tatsache, dass in den 1930er-Jahren «lediglich» 21% aller Erwerbstätigen im landwirtschaftlichen Sektor tätig waren, dort aber fast 60% aller grundpfandgesicherten Kredite der gesamten Volkswirtschaft gebunden waren, verdeutlicht die einseitige, sektorale Kreditvergabe. Es mündete in einem erhöhten Kreditrisiko für die Kreditgeber. Die eigentliche Schwachstelle war die notorisch tiefe Wertschöpfungskapazität der Kreditnehmer.

Anlagen sind nie alternativlos und haben immer ihren Preis

Zum Schluss noch dies: Diversifikation bei der strategischen wie operativen Vermögensallokation ist grundsätzlich ein bewährtes Rezept. 1940 waren 43.2% aller steuerbaren Vermögenswerte von Privatpersonen in Liegenschaften gebunden (vgl. Grafik). Heute sind es mehr als 54%. Hier zeigt sich in der Tendenz eine Schattenseite der allgemeinen Preissteigerung von Immobilien einerseits und dem alternativlos erscheinenden «Run» auf Immobilien andererseits. Die grundstücksbezogene Vermögenskonzentration hat sich weiter akzentuiert. Diese Verschiebung ist bemerkenswert und muss nachdenklich stimmen. Denn heute besitzen die privaten Haushalte Vorsorgeansprüche gegen Versicherungen und Pensionskassen im Ausmass von einer Billion Franken. Sie machen gut 27% des gesamten Reinvermögens aus. Vor 80 Jahren existierte dieses staatlich verordnete Zwangssparen zu Vorsorgezwecke noch gar nicht. Da im Vorsorgevermögen wiederum ein gefühlter Anteil von 20% in Immobilien investiert sind, präsentiert sich die nationale Vermögensallokation – aus anlagetechnischer Sicht gesehen – von einer suboptimalen Seite. Die aggregierte Übergewichtung in «Schweizer Immobilien» birgt beachtliche Risiken. Natürlich zeigen sich Anlagen in traditionell «risikoarme» Anlageklassen seit etlichen Jahren von einer wenig erbaulichen Seite. Die Gründe dafür sind hinlänglich bekannt. Trotzdem gilt es in Erinnerung zu rufen, dass ein Evaluieren oder nur schon ein Nachdenken über Alternativen nicht falsch sein kann. Zumal auf absehbare Zeit keine nachhaltige Besserung am Horizont zu erwarten ist. Es gilt an die Erkenntnis zu erinnern, dass sich ein Klumpen Glück mitunter in einen Klumpen Pech wandeln kann.

Zurück zur am Anfang gestellten Frage: Sollten nun die Alarmlocken schrillen? Nein, das müssen sie nicht. Aber es ist daran zu erinnern, dass heute noch mehr als sonst üblich, bei Anlageentscheidungen ein rigoroses und professionelles Risikomanagement zu betreiben ist. Nicht umsonst bedeutet «Due Diligence» gebotene Sorgfalt. Einem allfällig aufkommenden Schlendrian gilt es, die Stirn zu bieten.

Quellen:

Eidgenössische Steuerverwaltung, Eidgenössisches Wehropfer 1940, Statistische Quellenwerke Schweiz, Heft 135, Bern 1940.

Hausmann, Urs: Liegenschaften wertgeschätzt – Ein Streifzug durch zwei Jahrhunderte Schweizer Bewertungsgeschichte, Zürich 2019.

https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/10031759.pdf?id=10031759

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/haushalte.html

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/volkswirtschaft/volkswirtschaftliche-gesamtrechnung/bruttoinlandprodukt.assetdetail.9546391.html

https://www.snb.ch/de/iabout/stat/statrep/statpubdis/id/statpub_histz_arch#t2

https://data.snb.ch/de/topics/banken#!/chart/babilaapouach

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