Diese Woche berichtete die NZZ über den laufenden Planungsprozess rund um den Zürcher Hauptbahnhof. Die Planspiele der Behörden und von externen Planerinnen und Planer muten visionär an. Auf der Website des Zürcher Tiefbau- und Entsorgungsdepartement findet sich das fragliche Zukunftsbild unter dem Aktenzeichen «Masterplan HB/Central». Im Frühling 2025 soll der Stadtrat ein geplantes Weissbuch dazu verabschieden. Inhaltlich ist die Stossrichtung offenkundig: Statt Schienen und Strassen mit Trams und Autos sollen Parkanlagen und Bäume den weitläufigen Anlagen des Zürcher Hauptbahnhofs umranden. So weit, so gut. Doch es gab Zeiten, in denen die Regierung der Stadt Zürich wirklich visionär unterwegs war. Es wurde «Undenkbares» politisch verhandelt. Der Stadtrat wollte auf dem heutigen Stadtgebiet 27'000 Wohnungen in Hochhäusern und 25'000 Parkplätzen in Tiefgaragen bauen lassen. Das Beste dabei: Dafür sollten mindestens 45 Hektaren Wald gerodet werden. Der damalige Stadtpräsident, Dr. Sigmund Widmer (1919-2003), war ein glühender Verfechter des Projektes «Wald-Stadt». Mehr noch: Er propagierte zudem das Zubetonieren von ökologisch wertvollen Moorlandschaften. Dort sollten nach seiner Vorstellung peripher gelegene Satellitenstädte entstehen. Gegensätzlicher könnten die erwähnten Visionen wohl kaum sein.
Viele von euch, liebe Leserinnen und Leser, kennen das Projekt der Zürcher «Wald-Stadt» bereits. Für alle anderen habe ich die Eckwerte dieser gescheiterten Vision nochmals zusammengefasst. Was mich an dieser Geschichte am meisten fasziniert, ist der lockere und vielleicht auch naiv anmutende Umgang mit den herrschenden Realitäten. So ging anfangs der 1970er-Jahre planerischer Pragmatismus; in Zeiten, als es hierzulande weder ein nationales Umweltschutz- noch ein nationales Raumplanungsgesetz, aber schon sehr lange ein nationales Waldgesetz gab. Baumschutz avant la lettre. Zum Glück!
Demografisches Schrumpfen entgegen dem Trend
Zu Beginn der 1970er-Jahre war die Regierung der Stadt Zürich, der Stadtrat, beunruhigt über die eigene bevölkerungsmässige Entwicklung der Limmatstadt. Ein Blick in die statistischen Jahrbücher zeigte folgendes: Die Bevölkerungszahl nahm seit 1962 ab. Innerhalb von acht Jahren reduzierte sie sich um 18'000 auf rund 422'000 Menschen. Der kantonale Trend lief in die andere Richtung: Ohne die Stadt Zürich wuchs die Bevölkerungszahl des Kantons zwischen 1962 und 1970 um 22 Prozent. Im selben Zeitraum schrumpfte sie in der Kantonshauptstadt um gute 4 Prozent. Ein neues Phänomen offenbarte sich. Könnte die Stadt Zürich den Anschluss an eine prosperierende Zukunft verpassen? Neben der Angst von einem fortgesetzten Bevölkerungsschwund befürchteten die Behörden eine Überalterung sowie eine «Entflechtung» der Beziehung unter den Stadtbewohnern. Zudem sollte in der Zürcher «City» die Zahl der Arbeitsplätze weiter ansteigen. Auch dort erwartete man eine Verdrängung von günstigem Wohnraum mit Büro- und Verkaufsflächen.
Zwar lief die Schweizer Volkswirtschaft auf Hochtouren, zeigte teilweise gar Zeichen einer Überhitzung, aber die Einwohnerzahl in der mit Abstand grössten Schweizer Stadt nahm gleichwohl ab. Gleichzeitig sollte in der Zürcher «City» die Zahl der Arbeitsplätze weiter ansteigen. Die Verdrängung von günstigem Wohnraum mit Büro- und Verkaufsflächen würde sich dort weiter fortsetzen. Die Hauptursache für diese demografische Entwicklung lag in einem negativen Wanderungssaldo von Schweizerinnen und Schweizern. Mehr von ihnen verliessen pro Jahr die Stadt als im selben Zeitraum andere dort neu Wohnsitz nahmen. Auch pendelte man vermehrt von ausserhalb zur Arbeit in die Stadt. Parallel dazu nahm der jährliche Geburtenüberschuss ab. Ende der 1960er-Jahre kippte er ins Negative. Pro Jahr gab es in Summe weniger Neugeborene als Stadtbewohner starben.
Der Stadtzürcher Wohnungsmarkt bot aus Sicht der Nachfrager ein prekäres Bild. Leerstehende Wohnungen waren eine Rarität; im Jahre 1970 zählten die Behörden im Rahmen der jährlich wiederkehrenden Erhebung bloss vier leerstehende Wohnungen. Die resultierende Leerstandsquote wurde mit «0» ausgewiesen. Der Wohnungsmarkt war ausgetrocknet. Verschärfend kam im Laufe der 1960er-Jahre hinzu, dass der Neubau von Wohnraum an Schwung verlor. Er stockte und erreichte noch die Hälfte des Wertes, der im Vorjahrzehnt gemessen wurde. Der amtliche Mietpreisindex schoss nach schrittweisen Lockerungen einer schweizweiten strengen Mietpreiskontrolle nach oben. Dieses mietrechtliche Krisenregime blieb weit über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus in Kraft. Die Mieten für Wohnraum erhöhten sich innerhalb von zehn Jahren um über 60 Prozent. Die allgemeine Teuerung im selben Zeitraum fiel im Vergleich moderat aus. Die Preissignale im Nutzermarkt waren unmissverständlich. Das Angebot an verfügbaren und benötigten Wohnungen konnte mit dem Wachstum der Nachfrage bei Weitem nicht Schritt halten. Die real existierende Wohnungsknappheit war zu einem guten Teil hausgemacht. Denn begünstigt durch den stetigen, allgemein steigenden Wohlstand beanspruchten die Haushalte immer mehr Wohnfläche. So sank die städtische Kennziffer «Bewohner je Wohnung» innerhalb einer Dekade bis 1970 von 2.8 auf 2.4. Mit anderen Worten: Die mittlere Haushaltsgrösse nahm ab. Dabei handelte es sich um einen schweizweiten, flächendeckenden Trend. Der schrittweise Rückgang der Belegungsdichte setzte auf breiter Front bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Einschlägiges Datenmaterial dazu lieferte die eidgenössische Volkszählung im 10-Jahrestakt.
Paukenschlag mit gigantischem Bauprojekt
Vor diesem Hintergrund wurde die Stadtregierung aktiv. Mitte Juni 1971 wurde das Projekt «Wald-Stadt» erstmals im Rahmen einer ausserordentlichen Sitzung von der neunköpfigen Stadtregierung behandelt. Schon wenige Wochen später erhielt das städtische Bauamt II den Auftrag, ein Rodungsgesuch für das ausgewählte Waldstück auf Stadtgebiet auszuarbeiten. Es sollte dem Zürcher Regierungsrat vorgelegt werden. Man arbeitete speditiv. Bereits Mitte August konnte der Stadtrat die entsprechenden Dokumente verabschieden. Nun war der Regierungsrat am Ball. Eine Information der Öffentlichkeit war zu diesem frühen Zeitpunkt nicht vorgesehen.
Gleichwohl hielten vier Mitglieder des Stadtrates am späteren Donnerstagnachmittag des 2. Septembers 1971 eine Pressekonferenz ab. Der damalige Stadtpräsident, Dr. Sigmund Widmer (1919-2003), skizzierte die Ausgangslage und die Einschätzung der Stadtregierung. Ohne die Realisierung des Projektes «Wald-Stadt» sähen die städtischen Perspektiven für die Zukunft «beunruhigend» aus. Mehr noch, es zeichne sich ein Zukunftsbild ab, das von den Behörden nicht verantwortet werden könne. Daher hätte sich die Mehrheit des Stadtrates entschlossen, Gegenmassnahmen einzuleiten. Das Projekt «Wald-Stadt» sei insgesamt eine beispielhafte Siedlungsform. In der Beilage zu einem Schreiben an den Regierungsrat resümierte der Urheber des Projektes folgendes: «Es [das Projekt] wird aber, sollte es an die Hand genommen werden, auch in internationalem Rahmen ein beispielhaftes städtebauliches Unternehmen darstellen».
Die Projektbezeichnung war keine Mogelpackung. Im Gegenteil, sie hätte nichtzutreffender sein können. Hinter dem Arbeitstitel «Wald-Stadt» stand die Schaffung von Neubauten, die für 80'000 bis 100'000 Menschen Wohn- und Lebensraum auf dem angestammten Terrain der Stadt geboten hätten. Dieses Projekt war nicht auf der grünen Wiese, sondern tatsächlich in einem Wald vorgesehen. Der gewählte Name war Programm. Mit diesem kühnen Wurf wollten die Behörden dem Bevölkerungsschwund entgegenwirken.
Laut dem bürgerlichen Stadtrat Dr. Max Koller (1920-1999) war das Projekt «Wald-Stadt» alternativlos. Weder weitere Fusionen mit Nachbargemeinden noch eine Erschliessung von Bauland auf Stadtgebiet seien zielführend. Diese Optionen seien aus-gereizt. So reichten städtische Areale noch für die Schaffung von Wohnraum für maximal 18'000 Menschen. Auch in den umliegenden Landgemeinden könnten keine grösseren Wohnbauprojekte realisiert werden. Folglich sei das Vorhaben unter dem Strich die einzige gangbare Option. Insbesondere gab derselbe Stadtrat Entwarnung mit Blick auf die Finanzierung des Mammutprojektes. Einerseits sollte die Realisierung in Etappen erfolgen. Ein Zeitraum von 20 bis 30 Jahren war dafür vorgesehen. Dadurch waren finanzielle Spitzen ausgeschlossen. Andererseits könne man den Wald als «Gratisboden» verstehen. Er wurde im Realisierungsfall grundsätzlich im Baurecht an Investoren abgegeben. Letztere wären für die Finanzierung der Bauten verantwortlich.
Auch die sozialdemokratische Stadträtin Dr. Emilie Lieberherr (1924-2011) verband mit dem Projekt grosse Erwartungen in sozialer und sozialpolitischer Hinsicht. Konzeptionell handle es sich zwar um eine Stadt in der Stadt, aber sie hoffe dort auf eine vielfältig gemischte, offene und integrationsfreudige Bevölkerung. Gleichzeitig gab sie zu bedenken, dass diesbezüglich von viel Arbeit geleistet werden müsse. Handfestes sei dazu noch nicht vorhanden. Zumindest gesetzt war die Realisierung von Kindergrippen, Horte, Kindergärten und Schulen. Auch an «betagte» Personen war gedacht worden. Ihnen sollte die Möglichkeit geboten werden, in Wohngemeinschaften zusammenzuleben. Das Postulat der Durchmischung zeigte sich auch im Raumprogramm: Räume für das Kleingewerbe und Künstlerateliers bis hin zu Arztpraxen; Einzimmerwohnungen bis Eigentumswohnungswohnungen mit eigener Dachterrasse. Selbstverständlich seien dazu noch breitangelegte soziologische und architektonische Studien zu erarbeiten. Man stehe erst am Anfang eines «faszinierenden Abenteuers». Dazu würde der Stadtrat beim Gemeinderat zu gegebener Zeit einen Budgetantrag stellen.
Bei der Pressekonferenz bildete der Umweltschutz ein weiteres Schlüsselthema. Der Umgang und die Bedeutung von Waldgebieten standen dabei im Fokus. Auch ging es dabei um deren Rolle als Naherholungsgebiete. Die Vertreter des Stadtrates sahen in der «Wald-Stadt» ein probates Mittel im Kampf gegen die «fatale Zersiedelung» der Landschaft im Schweizer Mittelland. Es sei demnach besser, wenn räumlich konzentriert Wohnraum an verkehrstechnisch gut erschlossenen Gebieten gebaut würde. Da für die gerodete Waldfläche ohnehin ein vollständiger Realersatz zu leisten gewesen wäre, mass die Behörde dem Eingriff in das Landschaftsbild eine untergeordnete Rolle zu. Zudem war die geplante Satellitenstadt – zumindest oberirdisch – als autofreie Zone angedacht. Im Untergrund waren gleichwohl Parkplätze für 25'000 Autos vorgesehen.
Die Delegation des Stadtrates liess sich in den Medien wie folgt zitierten: «Zum ersten Mal sollen in der Schweiz in einer Siedlung von ausgesprochen städtischem Charakter die zurzeit gültigen städtebaulichen Grundsätze verwirklicht werden: konsequente Respektierung des Umweltschutzes, Abkehr von der Streubauweise, Integration der öffentlichen Dienste in der Wohnstruktur, Primat des öffentlichen Verkehrs, Durchmischung von Arbeiten und Wohnen, Einbettung der Siedlung in eine weite Park- und Waldlandschaft, sorgfältige Erarbeitung einer harmonischen Sozialstruktur.» Trotz der Grösse stand nicht die Quantität, sondern die Qualität im Vordergrund. Man war in jeder Beziehung ambitioniert unterwegs.
Steckbrief zu einem beispiellosen Vorhaben
Das Vorhaben war epochal. Es umfasste eine fast zusammenhängende Gebäudekette über eine Länge von fast 4,5 Kilometern. Dabei waren Gebäudehöhen zwischen 60 und 100 Metern vorgesehen. Das Megaprojekt sollte im Waldgebiet «Adlisberg-Loorenkopf-Dreiwiesen» realisiert werden. Dieses Gebiet grenzt unmittelbar an die östlich der Stadt gelegene Gemeinde Dübendorf an. Notwendig und vorgesehen war dafür die Schaffung einer ellipsenförmigen Waldschneise – fast einem lässig hingeworfenen Lasso entsprechend. Dazu sollten rund 45 Hektaren Wald gerodet werden, was in der Summe rund 65 Fussballfeldern entsprochen hätte. Damit wäre vor allem Platz für das bauliche Herzstück – Wohngebäude mit insgesamt 27'000 Wohnungen – geschaffen worden. Zum Vergleich: Ende 1970 beherbergte die Stadt Zürich insgesamt knapp 171'000 Wohnungen und der schweizweite, jährliche Zugang an Neubauwohnungen bewegte sich damals über 60'000 Einheiten. Für das Jahr 1973 wurde mit über 81'000 neuen Wohnungen gar ein Allzeithoch gemessen. Hierbei handelte sich um Spitzenwerte für die Geschichtsbücher. Seither wurden selbst in nachfolgenden Boomzeiten nicht mehr auch nicht annähernd so viele Wohnungen pro Jahr gebaut.
Das Hochbauamt der Stadt Zürich hatte auf einem losen A4-Blatt eine Kostenberechnung zusammengestellt. Sie war erfrischend knappgehalten. Verfasst wurde sie am 18. August 1971. «Approximativ» präsentierte sich das Ganze wie folgt: Bei den Bauten für Wohnungen, Büros, Einkauf und Schulen kalkulierten die Behörden mit Baukosten von 2.7 Milliarden Franken. Deren Herleitung war schnörkellos: 10 Millionen Kubikmeter Bauvolumen zu Baukosten von 270 Franken pro Kubikmeter. Dazu kamen die Kosten für Hotel mit Kongresszentrum über 100 Millionen Franken, für die Infrastruktur zur Ver- und Entsorgung über 130 Millionen Franken und Baunebenkosten in der Höhe von 230 Millionen Franken. Daneben gingen weitere 570 Millionen Franken auf das Konto für Verkehrsanschlüsse, namentlich für Anschlüsse an ein gleichzeitig projektiertes U-Bahn-Netz und an die Autobahn. Beide Positionen waren für die verkehrstechnische Erschliessung der Satellitensiedlung notwendig. Unter dem Strich ergaben sich mutmassliche Baukosten im Umfang von fast 4 Milliarden Franken. Ein stolzer Betrag, der der damals rund 3.7 Prozent des nationalen Bruttoinlandproduktes von 1970 entsprach. Indexiert nach heutigen Baukosten (Stand 2024) ging es um ein bauliches Investitionsvolumen in der Höhe von deutlich über 10 Milliarden Franken. Die benötigte, gerodete Waldfläche wäre bei Bedarf im Baurecht nutzbar gewesen. Da die Stadt Zürich bis auf eine kleine Fläche bereits Eigentümerin des benötigten Bodens war, erübrigte sich eine Budgetposten für deren Erwerb. In der vorgelegten Aufstellung der Kosten wurde die Positionen «Boden» mit null Franken eingesetzt. Mit der rechtlichen Ausgestaltung als Baurechtsparzellen würde – so die Argumentation des Stadtrates – auch der Spekulation entgegengewirkt.
Euphorische bis kategorisch ablehnende Reaktionen
Das Echo auf die Pressekonferenz war immens. Eine mediale Welle schwappte durch den Deutschschweizer Blätterwald: Fachartikel, Leserbriefe, Expertenkommentare, Stellungsbezüge und Interviews folgten. Auch Podien und Diskussionsrunden fanden statt. Die Reaktionen fielen mannigfaltig aus. So titelte die Lokalzeitung «Züri Leu» wohlwollend mit «Endlich eine Idee!». Andernorts war von einem Schritt der Verzweiflung die Rede. Positiv gesinnte oder gar lobende Beiträge waren rar. Wenige Tage nach der Pressekonferenz meldete sich Ernst Krebs (1903-1996) mit einem Artikel in der NZZ zu Wort. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1968 war er Zürcher Kantonsoberförster. Nach einem kurzen geschichtlichen Abriss zum Waldschutz in der Stadt Zürich nahm er das Projekt «Wald-Stadt» ins Visier. An ihm liess er keinen guten Faden. Der Umweltschutz dürfe im konkreten Fall keinesfalls zugunsten von anderen Interessen geopfert werden. Andernfalls drohe ein Dammbruch mit «katastrophalen Folgen». Zürich hätte bis anhin eine Vorbildfunktion inne. Mit dem Projekt «Wald-Stadt» würde die eigene Glaubwürdigkeit untergraben. Stattdessen forderte von den «rodungsfreudigen Stadtvätern» eine Waldgesinnung wie sie die Stadtzürcher Behörden um die Wende zum 20. Jahrhundert noch gehabt hätten. Er empfahl den Urhebern des Projektes, «die Rodungspläne Adlisberg möglichst rasch sang- und klanglos in den untersten Schubladen des Stadtarchivs abzulegen.» Postwendend meldete sich Dr. Heinrich Burkhardt (1918-1978) mit einer Entgegnung zu Wort. Als Stadtrat stand er dem Bauamt I vor. Er rechtfertigte das Vorhaben und plädierte für eine gesamtheitliche Sichtweise. Der Plan der «Wald-Stadt» sei «aus echter Sorge um das Wohl jener Menschen entstanden, die zwar im Raum der Metropole Zürich leicht eine gutbezahlte Beschäftigung, aber nur eine preisgünstige und nahe am Arbeitsplatz gelegene Wohnung finden können.» Darauf reagierte der ehemalige Kantonsoberförster abermals mit einem weiteren kritischen Beitrag. Insbesondere warnte er vor einem folgenschweren Grundsatzentscheid, der in die falsche Richtung gehen könnte.
Naturschutzkreise bliesen ins selbe Horn. Sie liessen verlauten, dass man alle ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausschöpfen werde. Der Verstand der Zürcherischen Vereinigung für Heimatschutz legte im Weiteren in elf Punkten dar, weshalb er der Ansicht war, dass das Projekt keine Rodungsbewilligung erhalten sollte. In dieselbe Kerbe schlugen die Behörden der Nachbargemeinde Dübendorf. Zudem wurden Stimmen laut, welche die ökonomische Rentabilität in Frage stellten. Statt von «Gratisbauland» zu sprechen, müsste der Aufwand für die Landerschliessung in die Kalkulation miteinbezogen werden. Er würde massiv zu Buche schlagen. Bei einer Vollkostenrechnung wäre mit einem exorbitanten Landpreis von rund 2'000 Franken pro Quadratmeter zu rechnen gewesen.
Auch die Zunft der Raum- und Städteplaner meldete sich ausgiebig zu Wort. Carl Fingerhut (1936-2021), der spätere Stadtbaumeister von Basel, taxierte das fragliche Projekt als «verständliche Kurzschlusshandlung eines Bedrängten». Gleichwohl beurteilte er das Projekt «Wald-Stadt» kritisch. Er ortete grundsätzlichen Handlungsbedarf in den übergeordneten Instrumenten der räumlichen Entwicklung im gesamten Territorium der Schweiz. Fachkreise begrüssten das Projekt «Wald-Stadt» vor allem als Denkanstoss, um sich mit der hiesigen räumlichen Entwicklung noch intensiver auseinanderzusetzen. Selbst an der Basler Fasnacht von 1972 sorgte das Zürcher Vorhaben für Stoff in einer Schnitzelbank:
«Nai, Herr Doggter Stämmler, nai,
en Aff bin ych e kaine,
sondern Meier isch my Namme,
Sie verschtön doch, was ych maine!
und ych wohn uf Bueche 17
und es gfallt mr kolossal,
die Waldstadt isch fir jede Zircher
aifach ideal!»
Finales Straucheln bereits an der ersten Hürde
Der Zürcher Stadtrat meinte es ernst und drückte aufs Gaspedal. Er wollte Fakten schaffen. Die erste Hürde, die auf dem Weg zur erfolgreichen Realisierung gemeistert werden musste, war offensichtlich. Ohne eine Rodung von Wald war kein Bauen im Wald möglich. Es ging um eine Grundvoraussetzung. Daher wählte man wohl überlegt ein ressourcenschonendes Vorgehen in Etappen. Ausgangspunkt bildete ein Rodungsgesuch. Das Rodungsgesuch des Stadtrates «betr. Projekt Wald-Stadt» datierte vom 19. August 1971. Eine dazugehörige Beilage III umfasste zwölf Seiten. Darin wurden die Ausgangslage, die Motive, das Projekt in groben Zügen sowie die allfälligen nächsten Schritte dargestellt.
Das «Problem» der Waldrodung wurde im Gesuch ausdrücklich angesprochen. Unbestritten war die gesetzlich verankerte Vorschrift eines vollen Realersatzes von rechtmässig gerodetem Wald. Seit der Inkraftsetzung des eidgenössischen Forstpolizeigesetzes von 1876 war der Grundsatz der Walderhaltung gesetzlich verankert. Seit 1902 galt er landesweit. Daraus leitete sich ein Rodungsverbot von Wald ab. Eine Rodung konnte nur ausnahmsweise mit einer spezifischen Bewilligung vollzogen werden. Eine Aufforstung im selben Ausmass war eine Pflicht. Vor diesem Hintergrund stellte sich der Stadtrat auf den Standpunkt, dass auf Stadtgebiet mindestens die gerodete Waldfläche als Realersatz durch Neuaufforstungen garantiert werden können. Auch seien durch diese Rochade mit keinerlei negativen Auswirkungen auf klimatische oder andere «hygienische» Aspekte der Stadt verbunden. Ebenso zeigten Gerichtsurteile eine eher gross-zügige Bewilligungspraxis. Im Vergleich zum Flughaften Kloten, wo 315 Hektaren für den Bau dieses Infrastrukturprojektes gerodet wurden, falle die durch das Projekt «Wald-Stadt» beanspruchte Waldfläche nicht aus dem Rahmen. Vor diesem Hintergrund könne das vorgelegte Gesuch für eine Rodung kaum verweigert werden. Zumindest vertrat der Stadtrat diese Sichtweise. Es herrschte Zuversicht.
Das Entscheidungsgremium, der Zürcher Regierungsrat, schob das Geschäft nicht auf die lange Bank. Im Gegenteil. Bereits Anfang Oktober 1971 lag ein Beschluss vor. Die Kantonsregierung wies das Gesuch vollumfänglich ab. Voraus ging eine einlässliche Güterabwägung aus unterschiedlichen Perspektiven: Öffentliche Interessen an der Rodung im Vergleich zu allen anderen öffentlichen Interessen. Die vorgelegten Argumente verfingen nicht. Sie wurden allesamt als nicht stichhaltig beurteilt. Vor allem ging der Regierungsrat von einem markant grösseren Flächenverbrauch aus. Statt einer Rodung von 45 Hektaren erwartete er eine solche im Umfang von 175 Hektaren. Die unterstellte bauliche Dichte könne keinesfalls realisiert werden. Das Vorhaben würde daher deutlich mehr Waldfläche beanspruchen. Kam hinzu, dass das unterbreitete Angebot zur Ersatzaufforstung qualitativ minderwertig ausfiel. Kleinteilige und dispers verteilte Waldflächen auf dem Stadtgebiet konnten nicht die Qualität bieten wie ein grossräumiges zusammenhängendes Waldgebiet. Unter dem Strich betrachtet zerpflückte der Regierungsrat das Rodungsgesuch nach Strich und Faden. Die resultierende Abweisung des Gesuchs war in sich schlüssig und nachvollziehbar. Die Rekursfrist von 30 Tagen verstricht ungenutzt. Der Entscheidung war somit rechtskräftig. Nach wenigen Monaten blieb ausser der Erinnerung an diese städtebauliche Vision für die Stadt Zürich nichts. Sie, die Vision, war Geschichte, bevor sie richtig in die Gänge gekommen war. Trotz dieser Vollbremsung nahm das Verwalten in den Amtsstuben den gewohnten Lauf. Im Oktober 1971 meldete sich Karl Hermes (1924-2003). Er hatte einen Lehrstuhl für Geografie an der Universität Regensburg inne. Er schrieb: «Als Stadtgeograph, der die modernen Probleme der Planung und ihre Realisierung den Studenten nahebringen möchte, interessiert mich dieses Projekt sehr.» Mit dem Hinweis, dass das Rodungsgesuch abgelehnt worden sei, wurde er vom Zürcher Stadtplanungsamt prompt mit einer Dokumentationsmappe bedient.
Kontextualisierung im Rückblick: «Voralpenstadt»
Das Projekt «Wald-Stadt» kam nicht aus heiterem Himmel. Es war kein Geistesblitz. Bereits im Herbst 1957 skizzierte Sigmund Widmer, schon damals als Mitglied des Stadtrats, seine Gedanken zur zukünftigen Entwicklung von Zürich. In der Zeitschrift «Bauen + Wohnen» erschien ein Fachartikel mit dem Titel «Zürich morgen». Dort stellte er in groben Zügen vier Schlüsselentwicklungen dar, die er erwartete und als relevant erachtete: eine weitere räumliche Ausdehnung der Innenstadt als Geschäftszentrum entlang der Hauptverkehrsachsen, die restlose Bebauung von noch freien Arealen durch bereits ansässige Industriebetriebe, eine bewahrende bauliche Erneuerung von privilegierten Wohnlagen, insbesondere von bestehenden Villenquartieren sowie ein stetiger Verlust von «billigen Wohnraum» innerhalb der Stadt. Um solchen und anderen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, ging es darum, räumlich konzertiert und in einem städtebaulichen Massstab neue Siedlungen zu schaffen.
Nach seiner Lagebeurteilung stand für Widmer ausser Frage, dass räumlich disperses Wachstum von neuen Siedlungsgebieten landesweit vermieden werden musste. Auch seien die Zeiten vorbei, in denen durch Eingemeindungen an den heutigen Stadträndern entsprechende Gebiete baulich und räumlich weiterentwickelt werden könnten. Für die Schnittmenge zwischen Bevölkerungswachstum und neuen Siedlungsgebiet kamen für ihn drei Narrative in Frage. Der Autor orientierte sich dabei an den von hiesigen Fachleuten vertretenen Leitvorstellungen.
Damals machte erstens die raumplanerische Vorstellung der «neuen Stadt» die Runde. Sie sollte auf der grünen Wiese geplant und gebaut werden. Diese Idee wurde in den 1950er-Jahren in drei Broschüren unter die Leute gemacht. Die Autorenschaft bildeten Lucius Burckhard (1925–2003), Markus Kutter (1925–2005) und Max Frisch (1911–1991). Nach der Devise «Wir selber bauen unsre Stadt» schwebte ihnen die Gründung einer Stadt, einer Musterstadt, vor. Sie sollte sich stetig weiterentwickeln. Das Echo auf diese Publikationen war enorm. Für die Entwicklung der Stadt Zürich stellte dieser Ansatz aber keine Option dar, stellte Sigmund Widmer lapidar fest.
Die zweite Stossrichtung figurierte unter der Bezeichnung «Regionalzentrum». Bei dem Vorschlag sollten bereits bestehende grosse Dörfer, die sich in der Umgebung der Stadt Zürich befanden, gezielt gefördert werden. In der Zielvorstellung sollten Zentren mit 30'000 bis 50'000 Einwohnern entstehen. Auch diese Idee vermochte Widmer auf die lange Frist nicht zu überzeugen. Allein die Stadt Winterthur böte vielversprechende Voraussetzungen – ausdrücklich genannt wurden eine ausgewogene Sozialstruktur, weitgehend gelöste Verkehrs- und Wohnbauprobleme sowie beachtliche Landreserven – sich als Regionalzentrum zu positionieren.
Unter der Bezeichnung «Nebenstadt» sollte als dritte Option die Realisierung einer Satellitenstadt geprüft werden. Da die Bezeichnung Satellitenstadt offenbar einen negativen Beigeschmack hatte, sprach der Autor bewusst von Nebenstadt. Der Unterschied zur «neuen Stadt» bestand darin, dass die Nebenstadt nicht als Gemeinde autonom sein sollte. Im Beitrag wurde schwedische Vällingby Centrum als Vorbild angeführt. Diese Satellitenstadt wurde zu Beginn der 1950er-Jahre auf dem Stadtgebiet von Stockholm realisiert.
Allen drei Leitvorstellungen haftete derselbe Makel an. Ihre Realisierung würde in jedem Fall mit dem Verbrauch von fruchtbaren, landwirtschaftlich genutzten Bodenflächen im schweizerischen Mittelland einhergehen. Diese Vorstellung störte Widmer. Wäre es daher nicht zweckmässig, den zukünftigen Wohnungsbau in den Alpen oder zumindest in den Voralpen zu realisieren? Dort seien, so verkündete der Autor, «unbesiedelte und auch landwirtschaftlich kaum genutzte Räume vorhanden.» Neben wetterbezogenen Vorteilen wie viel Sonnenschein und wenig Nebel wären dort die Bodenpreise «so niedrig, dass sich jenes beinah preisgegebene Ideal des Einfamilienhauses auch für den »kleinen Mann« auf einmal wieder verwirklichen lässt.»
Einen real existierenden Standort für ein solches Vorhaben hatte er beispielhaft schon identifiziert: Das Hochplateau des Zugerbergs, das auf einer mittleren Höhe von knapp 1'000 Meter über Meer gelegen war. Es lade zur Stadtplanung ein, fabulierte der Zürcher Stadtrat. Dort wäre es nach seiner Einschätzung in einem Gebiet mit rund 400 Hektaren möglich, Wohnungen, Einkaufsmöglichkeiten und öffentliche Dienst für 20'000 bis 30'000 Einwohner bereitzustellen. Die Voralpenstadt aus dem Bilderbuch war geboren. Und ja, «die Meinung wäre also, dass ein Teil der Bewohner werktags nach Zürich fährt und dort der Arbeit nachgeht. Dazu wären leistungsfähige Direktverbindungen mit der Bahn unumgänglich.
Widmer verhehlte in seinem Beitrag keineswegs die Radikalität der skizzierten Neuorientierung. Weil sie so «tiefgreifend» sei, müssten zuerst Erfahrungen im Massstab 1:1 mit einer oder zwei solchen Nebenstädten gesammelt werden. Darauf aufbauend könne man sich der «Lösung einer Alpenstadt» annähern. Der Betrag schloss – keinen Widerspruch duldend – mit einer gewagten Prognose: «Nur eine grosszügige und mutige Neuorientierung kann uns vor einer verhängnisvollen Entwicklung bewahren.»
Das Projekt der Voralpenstadt auf dem Zugerberg wurde nie konkretisiert. Es blieb eine planerische Utopie. Zum Glück! Das fragliche Gebiet entwickelte sich anders: Bis Mitte der 1950er-Jahre wurde vor Ort Torf als Rohstoff zur Energiegewinnung abgebaut. Seit 1982 steht das Zuger Hochmoor unter kantonalem Schutz. Und seit 1996 wird es im Bundesinventar der Moorlandschaften von besonderer Schönheit und von nationaler Bedeutung geführt. Gegenwärtig geniessen intakte Moore weltweit im Zuge des Klimawandels als Feuchtgebiete eine erhöhte Aufmerksamkeit. Sie können überproportional CO2 speichern. Wie sich die Zeiten ändern.
Quellennachweis:
Stadtarchiv Zürich: V.L.224.:4.70. Projekt Wald-Stadt, 1971 (Dossier)