Letzte Woche waren wir zu einer Hochzeit in Apulien eingeladen. Ein familiärer Anlass. Als meine Frau und ich mit dem Nachtzug von Milano kommend in Lecce ankamen, erkundeten wir zuerst diesen Ort; eine typische Provinzstadt mit knapp 100'000 Einwohner:innen. Besonders bekannt ist sie für den sogenannten Lecceser Barock. In der Innenstadt wimmelt es förmlich von barocken Sakralbauten, wobei die Basilika Santa Croce besonders heraussticht. Fünfhundertjährige verspielte Baukultur, die auch heute noch zu begeistern vermag. Es konnte damals nicht üppig genug sein.
Was mir in Lecce ebenfalls ins Auge stach, waren die explizit angelegten Velowege. Die ganze Stadt scheint ein feingliedriges Netzwerk mit dieser fokussierten Verkehrsinfrastruktur zu besitzen. Fairerweise gilt es anzumerken, dass das Terrain vor Ort mehrheitlich topfeben ist. Die topologischen Voraussetzungen präsentieren sich dort in idealer Art und Weise.
Gleichwohl ist mir diese Beobachtung einen Blogbeitrag wert. Denn – Hand aufs Herz – wer von euch (ich inklusive) hätte gedacht, dass zeitgenössische Italianità auch den alltäglichen Langsamverkehr beinhaltet. Zumal der Mezzogiorno notorisch als strukturschwache Region in Südeuropa gilt.
Szenenwechsel: Meine Frau und ich schlendern diese Woche durch die Innenstadt von Palma de Mallorca. Die zahlreichen Sandsteingebäude erinnern uns an Lecce. Auch hier lassen sich prächtige (Sakral)-Bauten bewundern. Ganz besonders angetan haben es mir aber Bauten, die im spanischen Jugendstil um die vorletzte Jahrhundertwende vor Ort geplant und errichtet wurden. Auch Antoni Gaudí sei Dank.
Die (natürliche) Veloinfrastruktur auf Mallorca ist bekanntermassen paradiesisch. Der Veloweg entlang der Bucht von Palma – beginnend bei der Kathedrale von Palma und endend in S’Arenal – ist so traumhaft schön wie er modern gestaltet ist. Beschreiben dieser malerischen Szenerie ist gut, selbst mit dem Velo einen Abstecher machen besser.
Im Zentrum von Palma gibt es zahlreiche Parkhäuser, also profane Nutzbauten mit Infrastrukturcharakter. Immerhin leben in diesem Ballungsraum über 400'000 Menschen. Damit ist die Hafenstadt bevölkerungsmässig nur unwesentlich kleiner als die Stadt Zürich. Zudem ist sie einer der touristischen Hotspots auf der Insel. In der Zufahrt zu einem dieser Parkhäuser fielen mir Plakate auf (Vgl. Titelfoto des Blogs). Sie illustrierten zwei «hausinterne» konkrete Projektentwicklungen bzw. Umnutzungen: Grosszügige Parkgelegenheiten mit integrierten Ladestationen für Elektroautos einerseits. Aus Parkhäusern werden Tankstellen. Und andererseits die bewusste Konversion von angestammten Autoparkplätzen in zeitgemässe und praktische Veloparkplätze. Aha, dachte ich mir, so geht Zukunft. Okay, nichts Bahnbrechendes, aber immerhin eine Brise von Veränderung.
Die Moral der Geschichte
In diesem Jahr feiern wir 175 Jahre moderne Schweiz. Im September 1848 wandelte sich die Alte Eidgenossenschaft zur ersten Demokratie in Europa. Ein epochaler Meilenstein in der Landesgeschichte. Damals brodelte das Land vor bahnbrechenden Innovationen und von Unternehmertum. Es herrschte Aufbruchstimmung. Heute droht das Land museal zu verstauben. Falsch verstandene Besitzstandwahrung prägen mehrheitlich unser Denken und Handeln. Kurzum, materieller Wohlstand lähmt unsere Gesellschaft. Massgebliche Projektentwicklungen im Mikro- wie im Makrobereich sind und bleiben selten.
Das Ganze erinnert mich an die Protagonistin im Roman «Siegerin» von Yishai Sarid. Dort treffen sich alle paar Jahre die Mitglieder einer ehemaligen Hochbegabtenkasse. Sie, die Protagonistin mit Namen Abigail, war und ist eine von ihnen. An einem dieser Zusammenkünfte stellte sie im Alter von anfangs 50 emotionslos für sich selbst Folgendes fest:
«Keiner von uns ist prominent oder reich geworden, keiner hat die Welt nachhaltig verändert. Das geschützte Treibhaus, in dem man uns aufzog, hat uns nicht gelehrt zu kämpfen.»
Für mich die perfekte Miniparabel für den aktuellen Zustand der hiesigen Volkswirtschaft im Allgemeinen und die Befindlichkeit der Mehrheit der Akteure die im Schweizer Immobilienmarkt aktiv sind, im Besonderen. Es mangelt an Kreativität, an Mut und an Hunger auf Veränderungen. Ein mutmasslich immenses Potenzial schlummert still vor sich hin und wartet auf seine Mobilisierung.
PS: Der oben genannte Roman ist – leider – hochaktuell. Es geht um die Psychologie des Tötens im Krieg. Die Lektüre des Buches sei an dieser Stelle empfohlen.
Quellen:
https://www.mobipalma.mobi/es/
Sarid Yishai: Siegerin, Kein & Abel, Zürich 2021.
Foto: dr. dr. üsé kuba hausmann (4. Mai 2023) in Palma