In der heutigen Ausgabe der NZZ findet sich ein Kommentar zur Erhöhung des mietrechtlichen Referenzzinssatzes von 1.25 auf 1.50%. Eine marginale Erhöhung von (vorerst) 25 Basispunkten, die nicht überraschend hohe Wellen wirft. Doch aufgepasst! Nüchtern und rational betrachtet kommt das dicke Ende für die grosse Mehrheit der hiesigen Mieterhaushalte erst noch.
Im erwähnten Kommentar finden sich Zitate, die von mir stammen. Das freut mich.
Da mich die Gestaltung des Mietzinses für Wohn- und Geschäftsräume seit über 10 Jahren beschäftigt und ich Tausende von Arbeitsstunden in Materie investiert habe, schreibe ich diesen Blog. Denn die geltenden Gesetzesnormen zu missbräuchlichen Mietzinsen und die mit ihnen verbundene Rechtsprechung offenbaren einmal mehr ein fatales Grundproblem des eidgenössischen Politsystem, nämlich die Unfähigkeit, massgebliche und zukunftsträchtige Gesetzesreformen anzugehen und sich auch in Kraft zu setzen.
Mindestens in drei zentralen Themenkreisen wird hierzulande seit Jahrzehnten bloss verwaltet, «gebastelt» und nach dem Prinzip Hoffnung schöngeredet: Mietrecht für Wohn- und Geschäftsräume, das Gesundheitswesen und das Rentensystem. Echte nachhaltige Reformen, die diese Bezeichnung auch verdienen, bleiben notorisch auf der Strecke. Allenfalls lassen sich Spuren von Symbolpolitik oder Kosmetik nachweisen.
Rückblende: Chronik einer angekündigten Misere
Vor über 30 Jahren bildete das Mietrecht in Bundesbern das binnenpolitisch heisse Eisen der Schweiz. Die Bindung der Mietzinse an die Entwicklung Hypothekarzinse (heute Referenzzinssatz) manifestierte damals seine ökonomisch, gesellschaftspolitisch und soziale Sprengkraft. Was war passiert: Die Mietzinse gingen in den 1980er-Jahren durch die Decke. Zwischen 1980 und 1990 erhöhten sich die Mietpreisindex des Bundesamtes für Statistik (Bestandesmieten) um knapp 60%. Die nationale Angebotspreisindex erhöhte sich – sage und schreibe – in dieser Dekade um den Faktor 2.4 (d. h. 140%). Es war damals ein Albtraum für Mieterhaushalte in der Schweiz. Gegenwärtig braucht es nicht viel (ökonomische) Fantasie, was den Mieterhaushalten unter dem geltenden Regime der Zinsanbindung der Mietzinse blühen dürfte
.
Botschaft des Bundesrats von 1999: «… mit verschiedenen Schwachstellen»
Im Zuge einer angedachten Gesetzesnovelle zum Mietrecht, die sich zeitlich Ende der 1990er-Jahre verorten lässt, schrieb der damalige Bundesrat folgendes in die dazugehörige Botschaft:
«Besonders problematisch ist sodann die Koppelung zwischen Hypothekar- und Mietzinsen. Die Kapitalkosten stellen faktisch nur in der Schweiz ein Element zur Beurteilung missbräuchlicher Mietzinse bzw. eine Referenzgrösse für Mietzinsanpassungen dar. Die bestehende Überwälzungspraxis wird deshalb von Mieter- und Vermieterorganisationen, von den Banken und der Wissenschaft seit langem kritisiert. Sie führt zu einer Politisierung des Hypothekarzinses und behindert die Geldpolitik.»
Wir befinden uns in der Gegenwart. Welche (bittere) Erkenntnis lässt sich nüchtern ziehen? Es sind über 30 Jahre ins Land gezogen, seitdem die offensichtlichen Mängel und Schwachstellen des damals und heute noch geltenden Mietrechtes reihum, seitens der Behörden, der Wissenschaft und der Politik, erkannt und in zahlreichen Studien und Berichten festgehalten wurden. Bereits 1991 publizierte das damalige Bundesamt für Konjunktur eine vernichtende Analyse zum hiesigen Mietrecht; amtlich bestätigt, sozusagen (vgl. Titelbild). Fakt ist, dass wir seit der letzten punktuellen Revision des schweizerischen Mietrechts von 1989 heute exakt am selben Punkt stehen. Nur die Gemengelage an der Zinsfront präsentiert sich heute fundamental anders:
Hört, hört: Der mietrechtliche Referenzzinssatz im Kanton Zürich betrug am 1. August 1992 satte 7.00%. Dabei handelt es bis zum heutigen Tag um ein historisches Allzeithoch. Innerhalb der letzten 30 Jahre sank dieser Indikator auf ein historisches Allzeittief von 1.25.%. Seit dem 1. Juni 2023 vermeldet das Bundesamt für Wohnungswesen einen solchen von 1.50%.
«Die Schweizer stehen zwar früh auf, aber sie erwachen spät.» (*)
Wir stehen vor einem Paradox: Einerseits zählt die Volkswirtschaft «Schweiz AG» zu den wirtschaftlich stärksten und robustesten sowie innovativsten Wirtschaftssystem der ganzen Welt. Seit über 100 Jahren schreibt hier eine kleine Alpenrepublik eine nachhaltige und eigentlich unglaubliche Erfolgsgeschichte. Andererseits gelingt es dem politischen System in Bundesbern nicht, echte Reformprojekte anzustossen, sie zu konkretisieren und zuletzt auch in trockene Tücher zu bringen. Reformen werden fast routinemässig auf die lange Bank geschoben. Es scheint fast so zu sein, dass die eigene Reformunfähigkeit in ausgewählten Themen kultiviert bzw. zelebriert wird. Wir leisten uns einen vermeintlichen und letztlich fatalen Luxus. Im Kern handelt es sich um eine Form der Wohlstandsverwahrlosung. In Anlehnung an den Schweizer Soziologe Peter Atteslander gilt bezogen auf das Mietrecht für Wohnräume sinngemäss folgende Losung: Wir verzichten auf eine aktive vorausschauende Gestaltung der Zukunft, sondern wir beschränken uns auf den Nachvollzug von vorgefassten, tradierten Entscheidungen. Das die «Politik» bezüglich alternativen Ansätzen mindestens 20 Jahre im Schlafwagen unterwegs war, beinhaltet eine besonders bittere Note für viele Mieterhaushalte in diesem Land. Einmal mehr eine passte Chance.
Ein Hinweis in eigener Sache: Reformvorschläge zur Diskussion
Für einmal keine Moral, sondern etwas Handfestes. An der Seitenlinie stehen und kritisieren ist das eine. Diskussionsbeiträge für eine mögliche Lösung der mutmasslichen Blockade zu liefern, das andere. Insofern erlaube ich mir zum Schluss noch einen Hinweis auf eigene, konkrete Reformvorschläge zum Schweizer Mietrecht. Die Vorschläge bilden einen Ausfluss aus einem rechtshistorischen Forschungsprojekt, das ich zwischen 2012 und 2015 an der Universität St. Gallen mit viel Herzblut durchgeführt habe. Diese Zeit war für mich so erkenntnisreich wie sie gut investiert war.
Hier der Hinweis auf meinen Diskussionsbeitrag: Swiss Real Estate Journal, Nr. 13, Oktober 2016, Mietrecht auf dem Prüfstand – Vorschläge für eine Revision. Das PDF-File kann per E-Mail unter urs.hausmann@kaori.ch angefordert werden.
Quellen:
Bundesamt für Konjunkturfragen: Mitteilungsblatt für Konjunkturfragen, Bern, Nr. 4, 1991. (Titelbild)
Hausmann Urs; Vertragsfreiheit im Schweizer Mietrecht von 1804 bis 2014 unter besonderer Berücksichtigung des Mietzinses, Diss. Universität St. Gallen, Zürich/St. Gallen 2016.
Lachat et al.: Das Mietrecht für die Praxis, 8. Auflage (Nachdruck 2011), Schweizerischer Mieterinnen- und Mieterverband / Deutschschweiz, Seite 760.
Martel Andrea: Mieten sollen nicht an die Hypozinsen gebunden sein, NZZ vom 2. Juni 2023, S. 20.
(*) Zitat, das wahlweise den ehemaligen Bundesräten Willi Ritschard oder Jean-Pascal Delamuraz zugeschrieben wird.
Comments