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Kapital: ein schwer fassbarer Begriff, nicht nur für Karl Marx


Am 26. September 2021 wird das Schweizer Stimmvolk über die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» abstimmen. Inoffiziell läuft sie unter der Bezeichnung «99%-Initiative». Mit diesem Vorstoss soll Einkommen, das aus Kapital stammt, stärker besteuert werden als andere Einkommensarten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das relevante Kapitaleinkommen eine noch durch ein Gesetz zu bestimmende Mindestgrenze überschreitet. Angestrebt wird damit eine Anders- oder Umverteilung von Kapital- bzw. Vermögensströmen unter den Privathaushalten in der Schweiz. Ein Steilpass, sich der Materie fokussiert im Rahmen eines Blog-Beitrags anzunehmen.


Kapital oder Vermögen sind ebenso schwer fassbare wie definierbare Begriffe bzw. Konstrukte. Allgemein formuliert können sie dem Eigentümer von Kapital oder Vermögen potenziell oder effektiv einen periodisch wiederkehrenden oder permanenten Nutzen stiften. Dieser Nutzen muss jedoch nicht zwingend identisch hoch ausfallen. Wie Kapital oder Vermögen auch lässt sich dieser mutmassliche oder tatsächliche Nutzen – zumindest in der Theorie – in monetäre Kategorien ummünzen. Bei der Bestimmung des steuerlichen Eigenmietwerts findet exakt eine solche Bemessung statt. Oder mit anderen Worten formuliert: Die Höhe des Kapitals oder Vermögens wie auch ein daraus resultierender Nutzen können, müssen und sollen in Geldeinheiten gemessen werden. Beides stellt in der Realität für die involvierten Stellen fast immer eine echte Herausforderung dar. Eine Ergänzung: Zur Vermeidung von fachlichen und terminologischen Missverständnissen soll hier darauf hingewiesen werden, dass Kapital und Vermögen zwar eine gemeinsame Schnittmenge besitzen, aber dennoch keine Synonyme sind.


Tatsächlicher und scheinbarer Wirrwarr in der Statistik

Wie vermögend sind Privathaushalte in der Schweiz? Zwei amtliche Stellen des Bundes publizieren regelmässig Datenmaterial dazu: einerseits die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) und andererseits die Schweizerische Nationalbank (SNB). Die ESTV weist per Ende 2017 ein totales Reinvermögen von knapp 2 Billionen Franken – 2'000 Milliarden Franken sprich 2'000'000'000'000 Franken aus (*). Daraus ergibt sich rein rechnerischer Mittelwert von rund 540'000 Franken pro Privathaushalt. Die Datenlage erlaubt es, in Verbindung mit anderen Forschungsarbeiten gar statistisch basierte Aussagen über die Verteilung des Reinvermögens pro steuerpflichtige Person zu machen. Demnach gehen rund 40% des Nettovermögens auf das Konto der 1% «reichsten» Privatpersonen in der Schweiz.


Die SNB veröffentlich ebenfalls einmal pro Jahr entsprechendes Datenmaterial. Für das Jahr 2017 veranschlagt die Statistiker der SNB das hiesige Reinvermögen auf 3.691 Billionen Franken bzw. 3'691 Milliarden Franken. Nimmt man diese Marke der SNB als bare Münze, beläuft sich das mittlere Haushaltsvermögen auf knapp 1'000'000 Franken. Gemäss dieser Quelle liegt der ausgewiesene Kennwert rund 85% über demjenigen der ESTV. Aufgrund der Datenlage einerseits und der unterschiedlichen Methodik andererseits lassen die SNB-Daten aber keine Aufschlüsselung bezüglich der Vermögensverteilung zu.


Ein substanzieller Teil der Differenz zwischen den beiden Urheberquellen erklärt sich durch den Einzug bzw. Ausklammerung von angesparten Vorsorgeansprüchen in der Höhe von gut einer Billion Franken. Eine ergänzende Erklärung liefern unterschiedliche Standards und Definitionen, die bei der Herleitung und Schätzung der jeweiligen Vermögenswerte angewendet wurden. So weit, so gut. Aber Achtung: Die Krux liegt nochmals woanders.


Gewichtiges fehlt oder ist schemenhaft abgebildet

Nun dürfte es jedoch als Hypothese so sein, dass weder die Datenlage bei der ESTV noch diejenige bei der SNB die wahre mutmassliche Vermögensakkumulation auf einem verlässlichen Niveau repräsentieren. Am Beispiel von standortgebundenem Vermögen – von Immobilien – soll die notorische Schwachstelle in aller Kürze dargelegt werden. Laut der SNB beläuft sich die Position «Immobilien» auf eine Grösse von knapp 2 Billionen Franken (genauer 1'997 Milliarden Franken per Ende 2017). Darin sollen laut Eigendeklaration unserer Zentralbank die geschätzten aggregierten Marktwerte aller Einfamilienhäuser, Eigentumswohnung und Mehrfamilienhäuser erhalten sein, die sich kumulativ erstens in der Schweiz befinden und sich zweitens im Eigentum von privaten Haushalten, die hierzulande auch leben, befinden.


Die SNB arbeitet ohne Vorbehalte sorgfältig, sauber und korrekt. Daran soll nicht gezweifelt werden. Bezogen auf die materielle Aussagekraft und Objektivitätsanspruch bei den deklarierten Vermögenswerten gilt es trotzdem auf gravierende Lücken hinzuweisen. Neben der generellen Ausklammerung von Immobilien, die von Schweizer Privathaushalten im Ausland gehalten werden (z. B. ein Ferienhaus in der Toskana) bleiben in der fraglichen Erhebung hiesige Liegenschaftskategorien schlicht unberücksichtigt: angefangen bei Gewerbe- und Geschäftsliegenschaften über Hotels bis hin zu Baulandreserven. Die dazugehörigen Vermögenswerte werden implizit mit 0 Franken veranschlagt.


Dazu nur zwei Hinweise: Das Bundesamt für Raumentwicklung schätzte für das Jahr 2017 die vorhandenen Baulandreserven auf rund 232'000 Hektaren. Unterstellt man einen mittleren Quadratmeterpreis von 440 Franken (Vergleich: Im Kanton Zürich liegt der Medianpreis im Jahr 2020 bei knapp 800 Franken), bewegt sich der aggregierte Schätzwert für die gesamte Schweiz bei rund einer Billion Franken, also 1'000 Milliarden Franken (**). Weiter veranschlagt Wüest Partner den Marktwert für Büro- und Verkaufsflächen auf 472 Milliarden Franken (Stand 4. Quartal 2017). Selbstverständlich dürfen solche oder weitere Vermögenspositionen nicht eins zu eins den Privathaushalten zugeschrieben werden. Gleichwohl ist es plausibel, dass sie massgeblich an diesem Kapitalstock partizipieren.


Analoge Überlegungen und Schätzungen liessen sich für weitere Asset-Klassen anstellen. Man denke etwa an Marken- oder Urheberrechte, an Kunstwerke oder an privatgehaltene, nicht an der Börse kotierte Aktien. Sie alle werden in den amtlichen Statistiken weder gar nicht, nur rudimentär oder schematisch berücksichtigt. Es liegt somit auf der Hand, dass das aggregierte Reinvermögen der Privathaushalte in der Schweiz markant grösser ist als sämtliche verfügbaren Statistiken


Moral der Geschichte

Was und in welcher Quantität und Qualität als Kapital oder Vermögen gilt – und selbstredend darauf basierende «Einkommen» –, ist letztlich willkürlicher Natur bzw. gesetzlich sanktionierte Willkür. Sofern die rechtstaatlichen Prinzipien und Prozesse beim Erlass der dazugehörigen Normen eingehalten wurden, gibt es daran zumindest aus rechtlicher Sicht nichts zu monieren. Es gelten die steuerrechtlichen Erlasse.

Der springende Punkt liegt einmal mehr im «Kleingedruckten» von publizierten Statistiken und Studien, nämlich erstens im redlichen Umgang und zweitens in einer belastbaren Interpretation des Datenmaterials. In der politischen Diskussion, und nicht nur in dieser, geht oftmals vergessen, dass Statistiken und dazugehörigen Zeitreihen nur einen Teil, nicht aber die gesamte, relevante Realität abbilden können. Meistens sind sie lückenhaft und unvollständig. Es besteht eine substanzielle, systemimmanente Unschärfe. Folglich ist eine gebührende Zurückhaltung bei Interpretation und Vorsicht bezüglich der Aussagekraft ein guter Ratgeber. Es gilt in Anlehnung an Goethe die Devise «interpretiere lieber ungefähr richtig als genau falsch».

Fazit: Über die tatsächliche Höhe des inländischen immobilienbezogenen Reinvermögens von in der Schweiz ansässigen Privathaushalten kann man bestenfalls fundierte Hochrechnungen mit einem ergebnisbezogenen Streubereich von plus/minus 30% anstellen. Alles andere ist Augenwischerei. Dasselbe gilt konsequenterweise für die statistische Verteilung aller miteinbezogenen Kategorien von Vermögenswerten.


Nachwort

Anmerkung: Damit soll keinesfalls in Abrede gestellt werden, dass sowohl Einkommen und Vermögen bei den hiesigen Privathaushalten massiv ungleich verteilt waren bzw. sind. Vielmehr zeigt sich in diesem Thema einmal mehr, dass die vorhandene Fakten- und Datenlage alles andere als rosig und robust ist. Und bei der Transparenz in der fraglichen Materie noch viel Luft nach oben vorhanden ist.

Die skizzierten Diskrepanzen im Mengengerüst zur Vermögenssituation der Privathaushalte in der Schweiz bestätigt zudem, dass die kantonalen Steuerbehörden mutmasslich einen laxen Umgang beim Vollzug der relevanten Gesetzesnormen pflegen. Ein sorgsamer Umgang mit dem vorhandenen Steuersubstrat müsste mehr Steuereinnahmen generieren. Aber das eine andere Geschichte.


Quellen:

Foellmi, Reto; Martínez, Isabel Z.: Volatile top income shares in Switzerland? Reassessing the evolution between 1981 und 2010, The Review of Economics and Statistics, December 2017, 99 (5), p. 793-809 und dort Grafik auf Seite

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-78376.html

https://www.are.admin.ch/are/de/home/raumentwicklung-und-raumplanung/grundlagen-und-daten/bauzonenstatistik-schweiz.html

https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung.assetdetail.14407044.html

https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/themen/wirtschaft/einkommen-vermoegen.html

https://www.zh.ch/de/planen-bauen/raumplanung/immobilienmarkt/bodenpreise.html

Wüest Partner, Immo-Monitoring 2018 | 2 Frühlingsausgabe, S. 154.


Methodische Hinweise:

(*) Aktuellste Daten; daher wird in diesem Blog durchgängig auf das Jahr 2017 referenziert.

(**) Eigene Modellrechnung von dr. urs hausmann strategieberatung


Bildmaterial:

https://ba.e-pics.ethz.ch/catalog/ETHBIB.Bildarchiv/r/247084/viewmode=previewview/qsr=Verm%C3%B6gen


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