
Diese Woche behandelte der Nationalrat die Totalrevision des Zollgesetzes. Der Umfang der Gesetzesentwurf sprengt mein Fassungsvermögen: Das PDF-File besitzt über 480 Seiten. In den Medien wurde nicht überraschend von einer «Monster»-Vorlage gesprochen. Wer als Parlamentarier oder Parlamentarierin in diesem Dschungel an Normen (noch) den Durchblick hier hat, geniesst meinen uneingeschränkten Respekt. Legislative Tätigkeit – als Schreibtischtäter oder -täterin – ist Knochenarbeit und definitiv kein Zuckerschlecken.
Ebenfalls diese Woche beschäftigte sich Bundesbern mit einer parlamentarischen Initiative. Sie wurde vom Mitte-Politiker Martin Candinas im Juni 2020 eingereicht. Er vertritt den Kanton Graubünden in der grossen Kammer. Sein Vorstoss erlangt, «unnötige und schädliche Beschränkungen des Zweitwohnungsgesetzes in Sachen Abbruch und Wiederaufbau von altrechtlichen Wohnungen aufheben». Alleine schon der reisserische Titel lässt vermuten, dass es sich hierbei um eine Mogelpackung handeln könnte. Schauen wir uns das Ganze näher an.
Revision Zweitwohnungsgesetz: Lehrstück in Sachen Fehlanreize setzen
Nun stimmte der Ständerat diesem Ansinnen nach dem Nationalrat ebenfalls zu. Die amtliche Pressemeldung titelte mit «Parlament lockert die Zweitwohnungsbeschränkungen». Ein klassischer Euphemismus. Immerhin steht in derselben Meldung auch, dass die beschlossenen Gesetzesanpassungen im Widerspruch zu einem Verfassungsartikel stehen. Doch, alter Schwede, was sind Verfassungsbestimmungen heute noch wert? Aber mein Punkt ist ein anderer:
Liest man die dazugehörigen Wortmeldungen der Befürworter dieser Gesetzesnovelle im Parlament, muss es einem Angst und Bange machen. Der mit ihnen verbundene ökonomische Sachverstand tendiert gegen null. Die vorgebrachten Argumente sind fadenscheinig. Damit kann ich noch leben. Aber wirklich stossend ist die offensichtlich dysfunktionale Wirkung der beschlossenen Gesetzesanpassung auf die erwartete Versorgung mit Erstwohnungen vor Ort. Aber vielleicht geht es den Verfechtern der Lockerung gar nicht um diese Baustelle. Wer weiss.
Denn die Profiteure der beschlossenen Anpassungen sind ausschliesslich Eigentümer bestehender Liegenschaften, die unter den spezifischen Geltungsbereich des Zweitwohnungs-gesetzes fallen. Machen wir uns nichts vor: Auch urchige Bergler wissen, wie der Hase läuft. Sie verhalten sich im Durchschnitt nicht altruistischer als Städter. Der Homo oeconomicus musste und muss hartes Brot essen. Aber stattdessen ein idealistisches Entscheidungsverhalten zu unterstellen, dürfte der Realität noch weniger entsprechen. Es ist nur naiv.
Bestände das (hehre) Ziel der Gesetzesänderung wirklich darin, die Wohnbevölkerung besser mit «preisgünstigem» oder «bezahlbarem» Wohnraum in touristischen Gemeinden zu versorgen, dann sind die beschlossenen Massnahmen kontraproduktiv. Überspitzt formuliert kann nicht einmal von einem Kollateralschaden gesprochen. Denn das würde implizierten, dass die fragliche Gesetzesänderung zumindest teilweise gesellschaftlich positive Wirkungen entfalten wird. Letzteres ist jedoch ein Märchen.
Unsägliche ein Drittel-Regel macht abermals die Runde
Aus mir schleierhaften Gründen hat sich in bauaffinen Gesetzen eine 1/3-Regel etabliert. Wenn eigentlich nicht (mehr) gebaut werden sollte, dann wird sie regelmässig als Ventil vorgeschoben. Ganz nach dem Motto, dass das Leben schon hart genug ist. Folglich darf eine wohldosierte Brise an Kulanz nicht fehlen: Sei es beim Bauen ausserhalb der Bauzone, sei es bei der Regulierung von Zweitwohnungen. Dabei variieren die Bezugsgrössen: Einmal ist es die Bruttogeschossfläche, einmal die Hauptnutzfläche (*). Mit Ermessen hat dieser Mechanismus aber nichts zu tun. Vielmehr werden damit falsche Anreize gesetzt. Und ja, echte Güterabwägungen funktionieren nie schematisch nach dem Rasenmäherprinzip. Oder anders gesagt bilden bestehende Gebäude nicht den angemessenen Massstab dafür, ob und wieviel zusätzliches Bauvolumen – implizit Wohnflächen – im Einzelfall zweckmässig ist.
Wenn man die einschlägigen Themenkomplex nüchtern betrachtet, war und ist das angestammte Zweitwohnungsgesetz von Anfang an und von A bis Z eine gesetzgeberische Fehlleistung. Nicht in der im März 2012 angenommenen Volksinitiative steckt das Übel, sondern in der nachlässigen und unsorgfältigen Umsetzung des auf ihr beruhenden Bundesgesetzes. Es macht den Anschein, dass es Vertretern von (rein monetär getriebenen) Partikularinteressen einmal mehr gelungen ist, gesellschaftlich suboptimalen Lösungen durchzuboxen.
Parlament ist der Urheber von dysfunktionalen Normen
Aus dem mutmasslichen «Unglück», dass die Initiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» überraschend von Volk und Ständen angenommen wurde, hätte auch als eine Chance – vor allem für eine zukunftsgerichtete Regulierung von touristisch geprägten Gemeinden – verstanden werden können. Aber dieser Zug ist abgefahren. Die beschlossene Lockerung ist offensichtlich eine Verschlimmbesserung sondergleichen. Zudem suggerieren gewisse Kreise, dass das Zweitwohnungsgesetz schädliche Effekte mit sich bringe. Doch wie sich die heute die Situation auf den Erstwohnungsmärkten präsentieren würde bzw. die Landschaftsbilder aussehen würden, wenn diese Zäsur nicht gekommen wäre, steht in den Sternen. Darüber können wir nur spekulieren.
Die Moral von der Geschichte
Spannt man den Bogen noch etwas weiter, lässt sich ein touristisch geprägtes Muster in Bundesbern erkennen. Auch bei der laufenden Debatte um die Abschaffung des steuerlichen Eigenmietwertes wird geltend gemacht, dass diese Veränderung in touristischen Gebieten (dort, wo Zweitwohnungen massiert anzutreffen sind), zu markanten Steuerausfällen führen könnte. Mag sein. Nimmt man jedoch eine volkswirtschaftliche und eine ganzheitliche Sichtweise ein, dürfte das Wohlfahrtsniveau in der Schweiz bei einem vollständigen Überbordwerfen dieser überholten Steuer unter dem Strich steigen: wenige Verlierer, aber viele Gewinner.
Bis anhin gilt nach der Devise «Maluns, Capuns und Subvenziuns», dass «strukturschwache» Gebiete mit Subventionen eingedeckt werden. Im Zentrum steht dabei der nationale Finanzausgleich. Er spielt eine herausragende Rolle. Dagegen ist grundsätzlich wenig einzuwenden. Es geht um gelebte Solidarität. Übergriffig droht es hingegen dort zu werden, wo die Lösung von real existierenden Herausforderungen in diesem Land – dem Schutz vor weiterer Zersiedelung der Landschaft, dem Überborden der Schuldenwirtschaft oder der Schaffung von zusätzlichen Erstwohnungen – durch eine kleine Minderheit von Menschen behindert oder gar torpediert wird.
In der hiesigen Politikanalyse ist die Metapher des Grabens populär: Alte versus Junge (Stichwort: Generationenvertrag), Reiche versus Arme (Stichwort: Umverteilung), sprachliche Minderheit versus sprachliche Mehrheit (Stichwort: Minderheitenschutz) oder «Stadt versus Land». Als Ausfluss dieses Blog liesse sich diese Typologie erweitern, nämlich durch die Bevölkerung, die in «Zweitwohnungsgemeinden» dauerhaft wohnt, und dem Rest der hiesigen Wohnbevölkerung. In diesem «Zweitwohnungsgemeinden» leben lediglich rund 6.3% der Landesbevölkerung (ständige Wohnbevölkerung). Und dort kommen auf eine Einwohnerin bzw. einen Einwohner circa 10 Zweitwohnungen pro Kopf. Mehr räumliche und physische Konzentration von Wohnraum geht nicht. Bleibt zu hoffen, dass sich im «Monstergesetz» nicht allzu viele ökonomische Fallstricke eingeschlichen haben.
Quellen: