Im Frühling 2021 hielt ich einen Vortrag. Inhaltlich ging es um die monetäre Bewertung von Immobilien in Krisenzeiten. Rückblende: Damals war weder ein offizielles noch ein inoffizielles Ende der Corona-Pandemie absehbar. Bewertende Instanzen mangelte es wie vielen anderen auch an einem verlässlichen Kompass. Etwas «Unvorstellbares» war zur Realität geworden. In Schätzerkreisen gipfelte das Ganze darin, dass die eigenen Bewertungen mit einem Vorbehalt – sprich einem Disclaimer – versehen wurden: «…die Folgen (…) für den Immobilienmarkt sind noch vollständig absehbar und im Moment schlecht quantifizierbar…».
Damals waren wir kollektiv im Blindflug unterwegs. Tatsächlich war unser Leben noch mehr als sonst vernebelt. Das hinderte niemanden daran, auch mich nicht, über die mutmasslichen Veränderungen, die in naher oder ferner Zukunft auf uns zukommen könnten, zu spekulieren bzw. nachzudenken. So oder so kann man aus Krisen in der Regel viel lernen, wenn man nur will.
Achtung: In Anlehnung an Paul Watzlawicks Diktum können wir nicht nicht spekulieren. Wir tun dies freilich mehr oder weniger bewusst, explizit oder implizit bzw. transparent. Oder anders gesagt müssen wir – jede und jeder für sich – laufend zukunftsgerichtete Erwartungshaltungen zu einer Vielzahl von Szenarien entwickeln, und sei es «nur» mittels einer linearen Fortschreibung der Gegenwart.
Exogene Schocks und das Antizipieren von mutmasslichen Effekten
Im besagten Vortrag referenzierte ich auf die verheerenden Terroranschläge, die im September 2001 die Welt erschütterten. Die bekannten Folgen dieses exogenen Schocks sollten mir als Blaupause dienen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich gewisse Grössen nach dem Ende der Krise entwickeln könnten: Wie wird dereinst das allgemeine Leben nach der Corona-Pandemie sein? Und wie könnten Immobilienschätzer:innen diese Zukunft in ihren Bewertungen angemessen berücksichtigen?
Krisensituation laden naturgemäss sowohl selbstberufene Expert:innen als auch Koryphäen auf ihren jeweiligen Fachgebieten zu entsprechenden Einschätzungen ein. Mitunter schiessen wilde Spekulationen ins Kraut. Das war 2001 als auch bei der Corona-Pandemie der Fall: Nicht selten fielen Begriffe wie Zeitenwende oder Paradigmenwechsel. Fast alle waren sich einig, dass sich viele Lebensbereiche und damit auch unser Verhalten fundamental verändern würden.
Das galt auch für unser Reiseverhalten als Teil der Realwirtschaft. Die Tourismusindustrie zählt in zahlreichen Ländern zu den wichtigen Wirtschaftszweigen. In Analogie und basierend auf der Passagierzahlen des Flughafen Zürich-Kloten vermutete ich im Frühling 2021, dass es rund sechs Jahre dauern würde, bis sich diese Grösse wieder mindestens auf dem Niveau vor dem exogenen Schock bewegen würde. Denn die damalige «Bremsspur» nach den Terroranschlägen war so lang. Folglich würde – so meine Einschätzung – erst Ende 2027 das Niveau vor der Krise wieder erreicht werden. Die allgemeine Reiselust und die effektive Reisetätigkeit sollten demnach über mehrere Jahre merklich eingetrübt bleiben.
Welt von gestern wird die Welt von morgen sein
Aber schon drei Jahre später gilt es ohne Vorbehalte zu konstatieren, dass ich mich bei meiner Prognose grob getäuscht hatte. Das bestätigt ein Blick in die einschlägigen Statistiken der Flughafen Zürich AG. Die dortigen Passagierzahlen am Zürcher Flughafen erholten sich dort deutlich rascher als man es erwarten konnte. Zwischen 2000 und 2023 zeigt sich im Datenmaterial ein V-Muster (vgl. Grafik im Titelbild). Letzteres ist der Konjunkturforschung einer der gängigen Verläufe bei wirtschaftlichen Dellen. Selbst der Angriffskrieg von Russland und damit verbundene temporäre Erhöhung der Kerosinpreise und die erneut aufkommende erhöhte Unsicherheit beeinflussten diesen Erholungspfad nicht negativ.
Exkurs: Aufschlussreich ist auch ein Blick die Geschäftsberichte der Flughafen Zürich AG: Im Geschäftsjahr 2001 resultierte auf Konzernstufe ein Verlust von gut 11 Millionen Franken. Aber bereits im Folgejahr kehrte das Unternehmen wieder in die Gewinnzone zurück. Anders bei der Covid-19-Pandemie. Sowohl das Geschäftsjahr 2020 als auch dasjenige von 2021 schlossen auf Konzernstufe mit einem Verlust ab. Gleichwohl wirkten sich die Terroranschläge von 2001 betriebswirtschaftlich stärker negativ und nachhaltiger aus. Denn die Jahresgewinne der Jahre 2002 bis und mit 2005 fielen vergleichsweise bescheiden aus. Das Muster, das wir aus Realwirtschaft kennengelernt haben, lässt sich auch in den Finanzzahlen nachweisen: Die Corona-Krise war in vielen Branchen wirtschaftlich so heftig wie flüchtig. Damit ist nicht gesagt, dass sie keine strukturellen Veränderungen hinterlassen hat. Im Gegenteil. Auch können Krisen als Katalysatoren wirken. Aber die makroökonomischen Eckwerte unserer mittelgrossen, offenen Volkswirtschaft, wurden offensichtlich nicht bleibend aus der Bahn geworfen.
Die Moral der Geschichte
Als ich vor drei Jahren den am Anfang erwähnten Vortrag hielt, war ich von meiner Prognose überzeugt. Sonst hätte ich diese These gar nicht in dieser Form aufgestellt. Was lerne ich aus dieser persönlichen ex-post Evaluation bezogen auf meine Prognose? Materiell gesehen hat die mutmassliche Angst von Terroranschlägen zumindest unser aviatisches Reiseverhalten deutlich länger gedämpft als unser Angst vor ansteckenden Krankheiten.
Die Präferenzen von Menschen sind offensichtlich bemerkenswert robust. Selbst einschneidende globale Krisen geraten nach deren Ende rasch in Vergessenheit oder sie werden verdrängt. Im Endeffekt fallen wir typischerweise in unsere tradierten Entscheidungs- und Verhaltensmuster zurück. Dies nach der Devise «aus den Augen, aus dem Sinn». Wir sind und bleiben Gewohnheitstiere. Eine wenig prickelnde Perspektive, aber eine mit einer hohen Eintretenswahrscheinlichkeit. Resilienz kann auch einfach gestrickt sein. Die Lust am Reisen – aus welchen Motiven auch immer gereist wird – ist und bleibt eine starke Triebfeder für sehr viele Menschen. Gut so.
PS: Hier noch ein passender Lesetipp: «Heute gilt als unsicher, was früher normal war» von und mit Nassim Taleb.
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