Gestern Abend hielt ich einen Vortrag. Das Thema: «Retail-Nutzungen an der Zürcher Bahnhofstrasse». Die Aufgabe: Aus ökonomischer Warte wagte ich einen Blick ins Jahr 2035 und darüber hinaus. Meine Ingredienzen: Makroökonomie, «Urban Economics» und eine Brise Spieltheorie. Das Ganze wurde als Dreigangmenü serviert: Woher kommen wir, wo stehen wir und wohin könnte die Reise gehen?
Zürcher Bahnhofstrasse ist kein Selbstläufer – die Fallhöhe ist enorm
Im Zuge meiner vorgängigen Recherche stiess ich im Stadtarchiv Zürich auf einen sogenannten Hässlichkeitskataster (*) (sic!). Die Bezeichnung tönte spannend und wenig bekömmlich zugleich. Was steckte dahinter? In den 1970er-Jahre machte sich nicht nur die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse ernsthafte Sorgen um die Attraktivität der Bahnhofstrasse als Arbeits- und Verkaufstandort. Denn die gesamtschweizerische wirtschaftliche Grosswetterlage war angespannt: Erdölpreisschock, Rezession und hohe Inflation trübten die konjunkturelle Perspektive. Zusätzlich bereitete eine konstant hohe Abwanderung von Haushalten den Zürcher Stadtbehörden grosse Sorgen. Vor diesem Hintergrund ging die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse in die Offensive.
Auf einer strategischen Ebene war den involvierten Akteuren schon damals klar, dass ein vielfältiges Angebot vor Ort der Schlüssel zum Erfolg sein dürfte. Neben grossangelegten Passantenbefragen und Studien liess man - wie bereits angetönt – einen Hässlichkeitskataster erarbeiten (**). Er fokussierte sich auf eine taktische Ebene. Darin enthalten waren rund 30 kleinere oder grösse Vorschläge, um die Attraktivität der Einkaufsmeile zu sichern bzw. zu verbessern. Ein Beispiel dazu:
Die Moral von der Geschichte
Auch ein halbes Jahrhundert nach der Publikation des Hässlichkeitskataster treffen die damals gemachten Überlegungen und Rezepte immer noch zu. Fast ist man versucht zusagen, sie gelten mehr den je. Sie sind zeitlos. Denn auch oder vor allem im Lichte von Digitalisierung, Internet-Handel, Künstlicher Intelligenz (KI) und des überbordenden Daten-Fetischismuses kommt neben dem Postulat der Vielfalt «vitalen» und transparenten Erdgeschossen in den rund 80 Liegenschaften eine herausragende Bedeutung zu. Sie sollen, nein, sie müssen magnetische Qualitäten besitzen.
Jens Jung, Mitgründer von John Baker, brachte dieses abstrakte Konzept in einem kürzlich gegebenen Interview in der NZZ perfekt und exemplarisch auf den Punkt. Auf die Frage, ob Banken mit geheimen Schliessfächern der Vergangenheit angehören und die gezeigte Bäckerkunst an der Bahnhofstrasse als Vorbild dienen könnte, antwortete er wie folgt: «Es schafft jedenfalls Vertrauen und einen schönen, bewegenden Anblick, gerade an der Bahnhofstrasse, in deren Schaufenstern vieles so statisch ist. Zudem ist es ein attraktiverer Arbeitsplatz, gerade für jüngere Leute: eine Art Bühne, auf der man sein Handwerk zeigen kann. Wie wahr! Merke: Es muss nicht immer High-Tech sein und Daten sind weder notwendig noch hinreichend, um ein Business erfolgreich zu betreiben.
Quellen:
https://www.nzz.ch/zuerich/der-john-baker-gruender-jens-jung-im-interview-ld.1756381
(**) Stadtarchiv Zürich, Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse. Archiv. VII.538.1 Schachtel 31.
Q4 Institut für Marktforschung, IMR AG, Kunden- und Imageanalyse, Zürich 1977, Vereinigung
(**) Willi Walter: Attraktiveres Stadtzentrum durch kleine Eingriffe, Werk, Nr. 9, 1973,
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