Zahlreiche Teile der Schweizer Volkswirtschaft wurden in einen Dornröschenschlaf versetzt. Aktuell laufen parallel sowohl der Prozess als auch die Debatte darüber, wann und wie sie wieder wachgeküsst sollte bzw. könnte. Leider handelt es dabei weder um einen Test noch um ein Experiment, sondern um eine Operation am lebenden Patienten. Die der Wirtschaft verabreichte Medizin ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Das ist offenkundig. Einer von vielen virulenten Brennpunkte betrifft Mietverträge von Geschäftsräumen. Insbesondere ist strittig, ob für solche öffentlich zugänglichen Räume, die krisenbedingt für das Publikum zwangsgeschlossen wurden (vgl. Art. 6 Abs. 2 COVID-19-Verordnung 2), während dieser Zeit ein Mietzins zu entrichten ist. Es geht dabei für beiden Seiten um sehr viel Geld. Eine Illustration: So mutierten umsatzstarke Detailhandelsflächen über Nacht zu profanen Lagerflächen. Dort wartet die Ware vergeblich auf neue Besitzer. Folglich dürften Mode-Aficionados und nicht nur sie die herrlichen Frühlingskollektionen 2020 heuer mehrheitlich weder selber tragen noch bewundern können. Eine bittere Pille.
Mietrechtlich gesehen stellen sich gegenwärtig zwei Fragen: Ist erstens die Tauglichkeit zum vorausgesetzten Gebrauch der Mietsache durch die Zwangsschliessung noch oder nicht mehr gegeben? Und zweitens interessiert die Intensität im Sinne eines mietrechtlichen Mangels nach Art. 259d OR. In den letzten Wochen wurden zahlreiche Gutachten verfasst und Stellungsnahmen abgegeben sowie Expertenmeinungen geäussert. Nur soviel: Die geäusserten Ansichten sind uneinheitlich; und sie stehen sich teilweise diametral gegenüber.
Die skizzierte Materie mit Blick auf Geschäftsräume soll hier weder aufgenommen noch vertieft werden. Vielmehr richtet sich der Blick in diesem Blog auf vermietete Wohnräume, sprich Wohnungen. Die Rechtsfigur des Mangels spielt bei Würdigung von Vertragsleistungen generell eine zentrale Rolle. Ob und in welchem Mass in konkreten Fall ein Mangel vorliegt, ist oft nicht trivial zu eruieren. Die mietrechtliche Rechtsprechung bei Mietwohnungen bietet dazu einen reichen Fundus an Anschauungsmaterial. Er reicht vom temporären Ausfall des Lifts, über das Vorhandensein eines Massagesalons in einer Wohnliegenschaft, bis zu unangenehmen Geruchsemissionen wie sie etwa von faulen Eiern verursacht werden. Liegen solche oder andere qualifizierte Mängel vor, können die Mieter vom Vermieter verlangen, dass der vereinbarte Mietzins während der Dauer des Mangels entsprechend herabgesetzt wird (Art. 259d OR). «Entsprechend» manifestiert sich dabei in den mietrechtlichen Urteilen in Prozenten. Die dazugehörige Bandbreite reicht in der Regel von 5% bis 60%. Die individuell-konkrete Festlegung der Mietzinsreduktion liegt im Ermessen von Gerichten.
Ein sehr häufiger und weitverbreiteter typischer Mangel an der Mietsache sind permanente oder temporäre Lärmimmissionen, welche die Mieterschaft negativ tangieren können. Aktenkundig ist beispielswiese Lärm, der von einer Baustelle auf einem benachbarten Grundstück rührt. Wobei dieser spezifische Lärm gegenwärtig wohl eher als Zeichen der Normalität denn als eine Kalamität gedeutet wird. Im Zentrum steht jedoch verkehrsbedingter Lärm. Sei es Strassen-, Schienen- oder Fluglärm. Im Zuge der Massnahmen zur Bewältigung der ausserordentlichen Lage wurden zahlreiche Unternehmen, Branchen und Tätigkeiten in ein künstliches Koma versetzt. Die Folgen für den Verkehr und den Transport von Menschen und Waren sind offensichtlich: Das Verkehrsaufkommen auf Strassen und Schienen sackte ab. Pendlerströme versiegten. Reisepläne mussten auf Eis gelegt werden. Noch verkehren motorisierte Fahrzeuge auf den Strassen. Auch der öffentliche Verkehr läuft mit Trams, Bussen oder Zügen weiterhin auf Sparflamme: Die Fahrpläne wurden ausgedünnt. Transportiert wird daher in erster Linie Luft. Fazit: der generelle Geräuschpegel in der Schweiz bewegt sich seit Wochen auf einem substanziell tieferen Niveau. Es fühlt sich an, als ob die Volkswirtschaft in Watte gepackt worden wäre.
Besonders frappant ist jedoch der Rückgang der Flugbewegungen. Seit Mitte Februar gingen sie am Flughaften Zürich um rund 90% zurück. Welch eine unerwartete Wohltat für die teilweise stark lärmgeplagten Haushalte, deren Mietwohnungen sich in den Ab- oder Anflugschneisen des Flughafens Kloten befinden! Durch die Corona-Krise ist dort für einmal kein neuer potenzieller mietrechtlicher Mangeltatbestand aufgetaucht. Im Gegenteil. Vielmehr hat sich eine notorische Quelle für solche mangelbedingten Mietzinsreduktionen fast über Nacht in Luft aufgelöst. Der Fluglärm ist weg. Die Home-Office-Tätigkeit in den sonst stark beschallten Wohngebieten rund um die systemrelevanten Infrastruktur Flughafen muss daher vergleichsweise fast idyllisch sein. Es dürfte nahe liegen, dass sich der eine oder andere Mieterhaushalt in Rümlang, Glattbrugg, Gockhausen oder in Kloten insgeheim erhofft, dass der wirtschaftliche Dornröschenschlaf noch viele, viele Jahre anhalten solle. Wenn die volkswirtschaftlichen Kosten des Lärmrückgangs – ganz abgesehen vom menschlichen Leid – nicht so exorbitant wären, könnte man diesem Ansinnen durchaus eine gewisse Sympathie entgegenbringen.
Und der Clou der Geschichte? Die dortigen Mieterhaushalte können die vorübergehende Ruhe und Absenz von Fluglärm ohne Angst vor einer Mietzinserhöhung geniessen. Denn ein Wegfall eines Mangels oder eine temporäre Verbesserung bei der Mietsache selbst führen in einem bestehenden Mietverhältnis nicht zu einem Anstieg des Mietzinses. Den Krisengewinnern sei dieser vermeintliche «Free lunch» auf jeden Fall gegönnt! Denn es ist absehbar, dass der Dornröschenschlaf am Flughafen Zürich nicht märchenhafte hundert Jahre dauern wird.
Quellen:
https://maps.zh.ch/?topic=TBAFALSBVWZH
https://www.flughafen-zuerich.ch/unternehmen/laerm-politik-und-umwelt/flugbewegungen/bewegungsstatistik
https://www.mietrecht.ch/index.php?id=74
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20200744/index.html
Schweizerischer Mieterinnen- und Mieterverband: Das Mietrecht für die Praxis, Zürich 2011, S. 161 ff.
Bildnachweis:
dr. urs hausmann strategieberatung, 19. April 2020