Im Umgang mit Gefahren für Mensch und Umwelt nimmt das Vorsorgeprinzip eine zentrale Stellung ein. Es liegt in der Natur von fast allen Katastrophen, Notlagen und Krisen, dass weder ihre individuell-konkrete Erscheinungsform noch deren Zeitpunkt verlässlich antizipiert werden können. Gleichwohl versuchen Behörden in zahlreichen Themenfeldern, mögliche Belastungen und potenzielle Schäden im Voraus gänzlich zu vermeiden oder sie zumindest im Ernstfall in tragbaren Grenzen zu halten. Es gilt im Grundsatz auf das «Undenkbare» gebührend vorbereitet zu sein. Das Vorsorgeprinzip ist somit ein elementarer Baustein des Risikomanagements. Vorsorgen statt heilen (sofern letzteres überhaupt möglich ist) lautet das dazugehörige Credo. Hochspezifischen Bauten, Infrastrukturen oder Gebäuden kommt dabei oftmals eine systemrelevante Bedeutung zu. Man denke an landestypische Naturgefahren wie Lawinen, Steinschlag oder Überschwemmungen. Aber auch die Gefahr von Terroranschlägen gehört dazu. Je nach Gefahrendispositiv sollen die Schutzeinrichtungen so dimensioniert sein, dass sie auf statistischer Basis auch sogenannten Jahrhundertereignissen trotzen können. Dass die Erstellung solcher Bauten sowie deren Pflege und spätere Instandsetzung die öffentlichen Haushalte nachhaltig – sprich über Generationen – belasten, ist landläufig bekannt.
Ebenfalls dem Vorsorgeprinzip gehorchend kennt man in der Schweiz eine lange Tradition mit dem Bau von Schutzräumen. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg förderte der Bund deren Realisierung. Mit dem Bundesgesetz vom 4. Oktober 1963 über die baulichen Massnahmen im Zivilschutz (Schutzbautengesetz, BMG) verankerte das Parlament mitunter die folgende Norm: «Zum Schutze der Bevölkerung sind in allen Gemeinden die notwendigen Bauten zu erstellen» (Art. 1 BMG). Neben öffentlichen Schutzeinrichtungen für die Durchführung von Operationen oder dem zweckmässigen Lagern von Kulturgütern waren auch Bauherren von zivil genutzten Wohnbauten verpflichtet, «Luftschutzkeller» zu bauen. Das Gefahrenszenario fokussierte sich ausschliesslich auf mögliche kriegerische Auseinandersetzung. Konkret verortete man damals den einschlägigen Gefahrenherd im Osten. Er trug die Farbe Rot. Die Doktrin eines Réduits in den Alpen lässt sich im genannten Bauprogramm mustergültig erkennen: Das Sich-Einigeln während einer Bedrohungslage ist geradezu einer der klassischen eidgenössischen Archetypen schlechthin. Es ist dieses kollektive Denk- und Handlungsregime, das tief in uns steckt. Parallel zur allgemeinen Neubautätigkeit schoss folgerichtig die Anzahl der privaten Schutzräume nach oben. Das Vorsorgeprinzip wurde förmlich in Beton gegossen. Aber nicht auszumalen, wenn diese Schutzräume dereinst tatsächlich in der Notlage benutzt werden müssten. Der simulierte Lackmustest im Massstab eins zu eins läuft derzeit landauf und landab. So löst die moderat gehaltene, aktuell geltende Devise «Bleiben Sie zu Hause. Retten Sie Leben» in diesen Tagen, den Experten- und Medienberichten nach, da und dort gravierende und ernstzunehmende Stresssituation aus. Dass verordnetes Zusammenleben und -wohnen Dichtestress und Kollateralschäden hervorbringen können, vermag hierzulande niemanden zu überraschen. Daher ist es absehbar, dass insbesondere private Schutzräume in prekären Zeiten deren eigentliche Funktion rasch verlieren würden und sie zu potenziellen «Folterkammern» mutieren könnten. Menschliche Dramen wären garantiert.
2010 schien die Politik die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Im Rahmen einer Teilrevision des Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetzes sollte die generelle Pflicht zum Bau von privaten Schutzräumen gelockert werden. Die Bestrebungen ging auf mehrere parlamentarische Vorstösse zurück. Im März 2011 schockte aber die Nuklearkatastrophe von Fukushima die gesamte Welt. Die Katastrophe im fernen Japan schürte Ängste. Und die erwähnte Passage in der Gesetzesbotschaft des Bundesrats wurde Makulatur. Denn die geplante Lockerung der Schutzraumpflicht fand im Parlament keine Mehrheit mehr. Im Dezember 2019 nun – also wenige Wochen bevor der Coronavirus auf den Plan kam, verabschiedete der National- und der Ständerat die Totalrevision des Bundesgesetztes über den Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz (BZG). Der Grundsatz, wonach jedem Einwohner und jeder Einwohnerin einen Schutzplatz in einem Schutzraum in der Nähe des Wohnorts bereitzustellen sei, wurde abermals bestätigt (Art. 60 BZG). Die Referendumsfrist läuft am 9. April 2020 ab.
Als «praktizierender» Hausmann befolge ich die behördlichen Verhaltensregeln pflichtbewusst. Die Zahl der Einkäufe für unseren Haushalt wurde auf ein Minimum reduziert. Beim Bezahlen der Lebensmittel in einem unserer Quartierläden hatte ich kürzlich ein Déjà-vu-Erlebnis. Eine improvisierte, behelfsmässige Schutzkonstruktion aus Plexiglas (Stichwort Spuckschutz) am Tresen erinnerte mich an meine Kindheit. Mein Grossvater leitete vor etlichen Jahrzehnten eine Geschäftsstelle einer Kantonalbank. Die Kunden bedienten er und seine Angestellten vornehmlich durch kleine Öffnungen in schusssicherem Panzerglas hindurch. Auch ich kaufte als kleiner Knirps bei meinem Grossvater US-Dollar-Banknoten auf diese distanzierte Art und Weise. Mich faszinierte beides, sowohl die schiere Existenz von «fremden» Banknoten als auch die Gelegenheit haben ihnen zu spekulieren. Die Banknoten hütete ich zwischenzeitlich zu Hause wie einen Schatz.
Die Arbeitsplätze von «Frontmitarbeitern» bei Banken oder bei der Post glichen Hochsicherheitszonen. Die Gefahrenlage war vergleichsweise so banal wie omnipräsent: Die Angst vor Überfällen. Was galt es in erster Linie zu schützen? Das Leben der Angestellten. Das beschriebene aufwändige bauliche Abwehrdispositiv in Schalterhallen kam zusehends aus der Mode und wurde Schritt für Schritt durch luftig gestaltete Begegnungszonen ersetzt. Sie stehen auch, aber nicht nur für Fortschritt. Nun erleben scheinbar aus der Zeit gefallene Schutzkonzepte in der Form von profanen Plexiglasscheiben eine Renaissance. Der Dringlichkeit gehorchend haben sie keinen ästhetischen Anspruch. Es handelt sich um reine Zweckmassnahmen. So wie private Schutzräume in Statistiken der Kategorie von Zweckbauten zugeordnet werden. Charme und Einkaufserlebnis kommen anders daher. Mit Spannung darf man darauf warten, wie dereinst krisentauglich gestaltete Verkaufsräume aussehen werden.
Was ist die Moral der Geschichte? Eine Krise, die während der akuten Phase oder im Nachgang keine Schwachstellen im geprüften System zu Tage fördert, ist keine echte Krisensituation. Immer wird es in solchen ausserordentlichen Lagen an irgendetwas mangeln oder gar fehlen. Daraus lassen sich folgende vier Schlüsselerkenntnisse ableiten: Die Umsetzung zur Bewältigung einer Krise ist erstens so verlässlich wie das schwächste Glied in der gesamten Kette von getroffenen Massnahmen. Zweitens dürften agile organisatorische oder logistische Ad-hoc-Massnahmen mehr Potenzial und Flexibilität für eine erfolgsversprechende Krisenbewältigung beinhalten als schwere, massive bauliche Eingriffe. Beispiel: Mit Klebsteifen auf dem Boden lässt sich die geforderte Mindestdistanz von zwei Metern in einer Einkaufsschlange spielend leicht realisieren. Drittens dürften auch in zukünftigen Krisen nicht oder zumindest nicht entscheidend den Hightech-Instrumenten eine zentrale Rolle zukommen. Die angepasste und intelligente «Regelung» des menschlichen Verhaltens wird voraussichtlich weiterhin grösste Aufmerksamkeit geniessen. Es ist wohl kein Zufall, dass demokratische Volkswirtschaften wie Südkorea oder Japan als Gesellschaft teilweise andere Lösungsansätze als der Rest der Welt verfolgen. Sie besitzen andere kollektive Verhaltensmuster. Viertens sorgen funktionierende Märkte für klare und die besten Preissignale. Sie offenbaren verlässlich die wahre Knappheit von Gütern und Dienstleistungen. Und noch wichtiger: Sie setzen Anreize, allfälligen Unterversorgungen rasch entgegenzuwirken. Die vorhandenen knappen wirtschaftlichen Ressourcen werden so bestmöglich zugewiesen (alloziert). Unbedachte Eingriffe in preisbildende Mechanismen sind auch in Notsituation fast immer kontraproduktiv. Der Staat sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, robuste Institutionen zu schaffen, die auch im Krisenmodus funktionieren und kluge Ergebnisse liefern.
Zum Schluss noch dies: Auch die Produktion und Auslieferung von Plexiglas kam ins Stocken. Postwendend schossen deren Preise nach oben. Gut so. Preisbildungen können sehr wohl auf irrationaler Basis erfolgen, aber sie lügen nicht. Genau gleich wie das Beispiel bei den händeringend gesuchten Schutzmasken belegt, kann es sich kein Staat auf Dauer leisten, von allen möglichen und unmöglichen Gütern und Rohstoffen hinreichende Reserve in petto zu haben. Ebenso wenig zielführend sind in diesem Kontext die aufkommenden Rufe nach staatlicher Produktion oder gar nach einer eigentlichen punktuellen wirtschaftlichen Autarkie. Es sind allesamt vergangenheitsorientierte Rezepte aus der Mottenkiste. Was einer Gesellschaft in einer allfälligen nächsten Krise an Gütern, Rohstoffen oder Leistungen fehlen wird, kann niemand verlässlich wissen. Ich tippe in diesem Thema auf eine Überraschung. Wir lebten und leben systemimmanent in einer Risikogesellschaft. Ein Bonmot des deutschen Schriftstellers Erich Kästners (1882-1946) bringt es für mich auf den Punkt: «Wird's besser? Wird's schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!» Und die Umstände dieses Lebens haben immer einen Preis. Das gilt auch für das vorbildliche Prinzip der Vorsorge.
Quellen:
https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2019/8687.pdf
https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2010/6055.pdf
https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc.do?id=10041868
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=19028
https://1000-zitate.de/10748/Wirds-besser-Wirds-schlimmer-fragt-man.html
Bildnachweis:
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Schalterhalle Leuenhof, Zürich um 1969.