Weltweiter Wirtschafts-Tsunami
Der Crash an der New Yorker Börse von Ende Oktober 1929 markierte den Startpunkt der Weltwirtschaftskrise. Die Schweiz als kleine offene Volkswirtschaft bekam die Auswirkungen dieser epochalen Krise zeitverzögert, dann aber ab 1932 mit voller Heftigkeit zu spüren: Eine hartnäckige Rezession war die Folge; die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe. Die volkswirtschaftliche Lage war prekär und düster. Vor diesem Hintergrund beschoss das Bundesparlament in den Jahren 1933 und 1936 umfassende und einschneidende Finanzprogramme zur Aufrechterhaltung der staatlichen Funktionsfähigkeit. Die Behörden stützten sich dabei auf ausserkonstitutionelles Notrecht.
Punktuelle Rückblende
Am 10. Mai 1929 schloss der Gastronom J. Rogenmoser einen Mietvertrag über 15 Jahre ab. Mietobjekt war ein Restaurant im Neubau der «Alten Börse» in der Stadt Zürich. Das Gebäude lag und liegt in unmittelbarer Nähe zum Paradeplatz (Bleicherweg/Talstrasse). Der Mietvertrag beinhaltete eine Staffelmiete. Der Mietzins sollte nach einem fixen Schema nach der Massgabe des Vertrages von 150'000 auf 198'000 Franken ansteigen. Die Weltwirtschaftskrise machte dem Restaurantbetreiber einen Strich durch seine Rechnung. Schon bald klaffte eine frappante Lücke zwischen erwartetem und dem tatsächlichen realisierten Umsatz. Sein Businessplan ging krisenbedingt nicht auf. Vor diesem Hintergrund wollte der Mieter aus dem langjährigen Mietvertrag so rasch als möglich aussteigen. Vor Gericht machte der Mieter geltend, dass die wirtschaftliche Krise bei Vertragsabschluss nicht vorhersehbar gewesen sei. Erst vor Bundesgericht wurde der Fall final entschieden. Dem damaligen Urteil des höchsten Schweizer Gerichts konnte entnommen werden, dass im konkreten Fall eine vorzeitige Vertragsauflösung nicht zulässig sei. Der Mietvertrag müsse also – trotz Krise – während der verbleibenden Restlaufzeit erfüllt werden. In der Urteilsbegründung behandelte das Gericht insbesondere die Rechtsfigur der «clausula rebus sic stantibus».
Rechtliche Würdigung
Letztere ist eine Irrtumsregel. Sie besagt im Kern, dass unter bestimmten Bedingungen ein Vertrag ausserordentlich aufgelöst werden kann. Besonders bedeutsam ist diese Regel bei Dauerschuldverhältnissen. Man denke dabei an Miet-, Pacht-, Baurechts-, Versicherungs- oder Hypothekarverträge, die ihrerseits mit einer festen Vertragslaufzeit ausgestaltet und daher nicht gemäss vertraglicher Abmachung kündbar sind. Nach geltender Rechtspraxis muss sich die Partei, welche sich auf die clausula rebus sic stantibus berufen will, erstens im Irrtum befunden haben, d. h. sie hat nicht mit der fraglichen Situation gerechnet. Zweitens muss dieser Irrtum für die Vertragspartei subjektiv wesentlich sein. Das trifft dann zu, wenn sie im Wissen um die fragliche Situation den Vertrag gar nicht oder zumindest nicht in der getätigten Art und Weise abgeschlossen hätte. Drittens muss der Irrtum objektiv erheblich sein. Ob diese Voraussetzung im konkreten Fall erfüllt ist, bleibt eine richterliche Ermessensfrage. Wäre beispielsweise die Fortsetzung des Vertrags für die klagende Partei mit ruinösen Folgen verbunden, dürfte diese Voraussetzung wohl erfüllt sein. Aber erst wenn alle drei Voraussetzungen kumulativ gegeben sind, eröffnet sich die Möglichkeit, dass ein Gericht die Auflösung des strittigen Vertrags zulässt. In der Folge wäre der Schuldner von seiner vertraglichen Pflicht und Last erlöst, den Miet-, Pacht- oder Baurechtszins über die verbleibende Vertragsdauer zu entrichten. Der zukünftige (allfällige) monetäre Schaden aus dem aufgelösten Vertrag müsste die Gegenpartei tragen. Dass die Vertragsparteien nur bedingt in die Zukunft schauen können und es daher rechtlich angemessen sein kann, Notventile in Gesetzen oder in der Rechtsprechung vorzusehen, belegen die mietrechtlichen Normen der Stadt Basel. Sie waren bereits im 18. Jahrhundert in Kraft. Demnach verfügten die Mieter über ein einseitiges Auflösungsrecht des Mietvertrages in Zeiten von «Nothfällen». Zu letzteren gehörten als Gründe insbesondere kriegerische Auseinandersetzungen.
Übergeordnete Einordnung
Die Aufrechterhaltung der Liquidität ist für ein Unternehmen oder auch einen privaten Haushalt wie die Luft zum Atmen. Fehlt sie, sind fatale Folgen vorprogrammiert. So liegt es in der herrschenden ausserordentlichen Lage auf der Hand, dass die wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Bestrebungen dahin gehen, diese lebensnotwendige Liquidität – unbürokratisch und zeitnah sicherzustellen: Die Palette der möglichen Massnahmen ist bekannt und überschaubar: Aussetzung, Stundung, Verzicht oder auch gemeinschaftlich erarbeitete Krisenlösungen. Die bereits laufenden, brandaktuellen Diskussionen um die Rechtmässigkeit von Mietzinsforderungen für Mietobjekte, die ganz objektiv gesehen und faktisch bis auf Weiteres nicht mehr genutzt werden dürfen, bilden einen virulenten Schauplatz und bieten entsprechendes Anschauungsmaterial. In Ergänzung zu dieser liquiditätsbezogenen Optik beleuchtet dieser Blog einen weiteren Aspekt: nämlich ein versuchter Blick in die übernächste Geländekammer. Was könnten die möglichen strukturellen Auswirkungen und Verwerfungen mit Blick auf Dauerschuldverhältnisse aufgrund der aktuellen Pandemie sein. Man stelle sich etwa ein hoffnungsfrohes Start-up-Unternehmen vor, dass Ende 2019 den Mut fand, einen Mietvertrag mit einer Laufzeit von fünf Jahren zu unterzeichnen. Noch ist die Tinte der Unterschrift nicht trocken, und schon präsentiert sich für die Jungunternehmer und für fast alle von uns eine gänzlich andere volkswirtschaftliche Grosswetterlage. Letztmals habe ich als involvierter Berater eines Mietinteressenten einen vergleichbaren exogenen Schock vor fast 20 Jahren erlebt: Ein Dienstleister verhandelte damals über einen langjährigen Mietvertrag. Das fragliche Mietobjekt umfasste rund 4'000 Quadratmeter an Büroflächen in einem Neubau. Waren sich die Parteien am 7. September 2001 eigentlich handelseinig, brach der Dienstleister als Mietinteressent einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Verhandlungen abrupt ab. Was wäre wohl passiert, hätte man vor diesen tragischen Ereignissen den Mietvertrag unterschrieben?
Moral der Geschichte
Das Preisniveau für Renditeliegenschaften hat sich während der vergangenen rund 20 Jahre im Mittel fulminant nach oben geschraubt. Dafür gibt es etliche handfeste Gründe als auch solide Erklärungen. Insbesondere mit spekulativem Geschäftsgebaren hat diese Entwicklung wenig bis nichts zu tun. Das ist zumindest für mich keine Frage. Ein kritischer Hinweis zu Preisniveaus sei gleichwohl angemerkt: Die Erklärung, dass die Existenz von langjährigen Mietverträgen über 10 oder noch mehr Jahren eine stichhaltige Begründung für vergleichsweise noch tiefere Kapitalisierungs- oder Diskontierungssätze bei Akquisitionen von Geschäftsliegenschaften sei, war schon immer blauäugig. Ein Gegenparteienrisiko bestand immer und wird auch weiterhin bestehen. Oder anders formuliert: Auch wenn die gemessenen ökonomischen Risikoprämien gegen null tendieren, bedeutet es nicht und nie, dass sich damit die realen Risikoszenarien entsprechend verändern würden. Alle Verträge, seien es Miet- oder Hypothekarverträge, sind letztlich fragile Konstrukte. Ihre Werthaltigkeit kann nicht nur durch einen Totalausfall der Gegenpartei – konkret einem Konkurs – gefährdet sein. Und so gibt es nichts Gefährlicheres als sich durch sie in falscher Sicherheit zu wähnen. Ein dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835-1910) zugeschriebenes Zitat bringt meine Botschaft auf den Punkt: «Nicht das, was du nicht weisst, bringt dich in Schwierigkeiten, sondern das, was du sicher zu wissen glaubst, obwohl es gar nicht wahr ist.» Wer diese Gedanken in der Vergangenheit beherzigt hat, dürfte nun die besseren Chancen besitzen, die absehbaren volkswirtschaftlichen Turbulenzen relativ bessern abzuwettern als andere.
Nachtrag
Der aufmerksamen Leserschaft dürfte nicht entgangen sein, dass der Gastronom vor Gericht kein Gehör fand. Daher mag meine Argumentationskette nicht stimmig erscheinen. Der Gastronom liess nicht locker und verlangte eine Vertragsauflösung aus wichtigen Gründen nach der Massgabe von Art. 269 aOR. Wieder musste sich das Bundesgericht der Sache annehmen. Und diesmal obsiegte Rogenmoser als klagende Partei. Wird die Höhe des Mietzinses durch eine Veränderung der wirtschaftlichen Lage «zur unerträglichen Last», kann dies ein wichtiger Grund sein, um einen Mietvertrag aufzulösen. Der Ausstieg hatte dafür eine Entschädigung zu entrichten.
Quellen:
BGE 59 II 372; www.servat.unibe.ch/dfr/c2059372.html
BGE 60 II 205; https://www.rechteck.uzh.ch/grafiken/2208.pdf
Hausmann, Urs: Vertragsfreiheit im Schweizer Mietrecht von 1804 bis 2014, Zürich/ St. Gallen, 2016.
Koller, Alfred: Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage, Bern 2009, §29 und dort die Randnoten 2ff.
https://ostermeier.net/wordpress/2017/12/zitat-von-mark-twain-ueber-was-dich-in-schwierigkeiten-bringt/
Aktueller, ergänzender Hinweis:
https://www.nzz.ch/wirtschaft/coronavirus-muessen-geschlossene-laeden-weiter-miete-zahlen-ld.1546880
Bildnachweis:
https://baz.e-pics.ethz.ch/index.jspx?com.canto.cumulus.web.ErrorID=SessionIsExpired#1584875842512_18; Baugeschichtliches Archiv, ETH Zürich, e-pics, 15349.tif. Heute befindet sich in diesen Räumlichkeiten das Restaurant «AURA».